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Schwinger Club Vol. 28

Stefan Kiessling

Von Rudi Schaarschmidt, Fotos: KIKE

Wer seit 15 Jahren Fußballprofi ist und zu den besten Torjägern der Bundesliga-Geschichte zählt, hat viel zu erzählen. Erst recht, wenn er auch noch die Liebe zum Golf entdeckt hat.

In Zeiten, in denen im Fußball-Business Teenager, die wie Gangster-Rapper tätowiert sind und ihre Mütze falsch herum aufsetzen, streikend Vereinswechsel erzwingen, empfindet man es als äußerst angenehm, dass es auch noch Routiniers gibt, die ihre Bodenhaftung nicht verloren haben. Stefan Kießling ist einer davon. Mittlerweile 33 Jahre alt und damit im Spätherbst seiner Karriere angekommen, spielt der Mittelstürmer von Bayer Leverkusen seine letzte Saison. Er hatte damit geliebäugelt, schon in diesem Sommer aufzuhören, doch nicht zuletzt wegen seiner Leader-Qualitäten war es den Clubverantwortlichen wichtig, dass er noch ein Jahr dranhängt. Rund 6.000 Spieler haben seit Gründung der Bundesliga in der höchsten deutschen Spielklasse gekickt. Nur 62 haben es auf mehr als 400 Einsätze gebracht. Der große Blonde mit den großen Schuhen (Größe 48) wird in Kürze in diesen erlauchten Kreis einziehen. Noch beeindruckender ist seine Bilanz als Torjäger. Mit 144 Bundesligatoren belegt er in der ewigen Bundesliga-Torschützenliste Rang 17.

Tätowiert ist er allerdings auch. Auf seinen Unterarmen prangen die Namen seiner Kinder: Tayler-Joel und Hailey-Milu. Nach jedem Tor küsst er beim Jubel diese Tattoos. "Auf der PlayStation kriegt man das nicht hin", lächelt der Familienmensch, der seit 2008 mit Norina verheiratet ist, als er mit ihr eine Traumhochzeit im Schloss am Wörthersee feierte. "Jeder Ärger, den du vom Beruf mit nach Hause bringst, ist sofort zweitrangig, wenn die Kinder auf dich zustürzen. Wenn die spielen wollen, ist egal, ob du gerade einen Elfmeter verschossen oder eine Rote Karte kassiert hast. Das erdet." Die Geburt seiner Kinder bezeichnet er wie so viele als unvergessliches, unfassbares Erlebnis, das auf immer im Gehirn und Herzen eingebrannt bleiben wird.

Schwinger Club Vol. 28:

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WENN DIE KINDER SPIELEN WOLLEN, IST ES EGAL, OB DU GERADE EINEN ELFMETER VERSCHOSSEN ODER EINE ROTE KARTE KASSIERT HAST. DAS ERDET.
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Dass wir uns in Köln-Weidenpesch nur ein kurzes Eisen von der Galopprennbahn entfernt auf der ältesten Fußballtribüne des Landes treffen und über Golf plaudern können, ist zwei glücklichen Umständen zu verdanken. Zum einen meinen Überredungskünsten, denn als Leverkusener meidet er die Domstadt eigentlich wie ein Model McDonald's. Da aber die alte Tribüne des VfL 1899 Köln, wo Teile von "Das Wunder von Bern" gedreht wurden, ebenso denkmalgeschützt wie einsturzgefährdet und abgesperrt ist und wir somit allein und ungestört sind, stimmt "Kies" dem Treffpunkt schließlich zu. Und zum anderen seinen guten Reflexen: Ohne die müssten wir uns nicht über Fußballrekorde oder Birdie-Putts, sondern vermutlich über Schnabeltassen oder Augenklappen unterhalten. Bei einer Golfpartie stand er jüngst direkt neben seinem Schwiegervater, als der versuchte, sich aus einer schwierigen Lage an einem Baum vorbei zu befreien. "Ich habe es irgendwie nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen und blitzschnell meinen Kopf seitlich zur Schulter abgekippt. Der Ball war vom Ball abgeprallt und schoss in Augenhöhe um Millimeter an mir vorbei."

In Oberfranken geboren hat Stefan als Knirps seine ersten Tore beim TSV Eintracht Bamberg erzielt, den sein Großvater mitbegründet hat. Weil Talente früher wie heute schnell von den größeren Clubs der Umgebung gescoutet werden, begann seine Profilaufbahn beim 1. FC Nürnberg. Sein damaliger Mannschaftskollege Frank Wiblishauser hat ihn mal mit auf die Driving Range genommen - Kießlings erster Kontakt zum Golfsport, der erst mal keine Fortsetzung fand. Doch nach seinem Wechsel nach Leverkusen 2006 packte ihn das Fieber. Seither versucht er, mindestens einmal pro Woche zu spielen, wobei er nie auf die Range geht, sondern direkt loslegt. Meist im Düsseldorfer Raum mit seinem ehemaligen Mannschaftskameraden René Adler oder dem Ex-Profi Miroslav Kadlec. Und "Kies" ist Autodidakt: "Ich hatte noch nie eine Trainerstunde. Dafür bin ich ganz zufrieden." Seine beste Runde war einmal 11 über Par. Einen Club hat er nicht. Sein Handicapwird bei den GoFus (Golf spielende Fußballer) geführt.

Schwinger Club Vol. 28: Unsportlich: den Ball vom Gegner tief in den Sand drückenSchwinger Club Vol. 28: Unsportlich: den Ball vom Gegner tief in den Sand drücken
Unsportlich: den Ball vom Gegner tief in den Sand drücken
Stefan hat in seiner Karriere nahezu alles erlebt: Abstieg aus der Bundesliga, Aufstieg in die Bundesliga. Er hat in der Champions League gespielt, stand 2009 mit Leverkusen im DFB-Pokalfinale in Berlin. "Wenn ich ein Spiel noch mal spielen könnte, wäre es das Finale gegen Bremen, das wir 1:0 verloren haben", sagt er wehmütig. Denn einen Vereinstitel hat er nie gewonnen. Bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika 2010, die Deutschland als Dritter beendete, bestritt er zwei seiner sechs Länderspiele. Er wurde 2013 Torschützenkönig der Bundesliga vor Robert Lewandowski. Seine 25 Saisontore sind Leverkusener Vereinsrekord. Den 1:0-Siegtreffer am letzten Spieltag beim HSV in der 90. Minute bezeichnet er als schönstes Tor seiner Karriere. Bei der Sicherheitskontrolle am Hamburger Flughafen bekam er mächtig Probleme wegen der Torjägerkanone, die ihm nach Spielende überreicht wurde. Ein Ordnungshüter verwechselte sie mit einer Waffe. Stefan hat diverse Verletzungen hinter sich und: das "Phantomtor"! Der Ball, der in Hoffenheim von außen den Weg ins Netz fand und als Tor gegeben wurde, ist der Grund dafür, dass Bayers Nummer 11 in den sozialen Netzwerken nicht mehr aktiv ist. "Die Schmähungen, die ich daraufhin in den sozialen Netzwerken über mich ergehen lassen musste - das war in Menge und Inhalt superkrass. Daraufhin habe ich das alles gelassen." Auch eine Homepage hat er nicht mehr.

Wenn man "Kies" aus der Nähe vor sich sieht, kann man sich kaum vorstellen, wie sich dieser 1,91 Meter große Schlaks ständig in den direkten Duellen mit den nicht selten kleiderschrankähnlichen Verteidigern durchsetzen kann. Da ist nichts Bulliges. Drahtig und durchtrainiert sieht er aus. Und mindestens zehn Jahre jünger, beinahe lausbubenhaft. Die vielen Schlachten haben anderswo Spuren hinterlassen. Den Stürmer mit dem unglaublichen Laufpensum und dem Kämpferherz quält seit einiger Zeit eine kaputte Hüfte. "Ich habe praktisch keinen Knorpel mehr im Gelenk und werde in nicht allzu weiter Ferne eine künstliche Hüfte bekommen müssen. Aber das ist ja heutzutage kein großes Problem mehr", plaudert er, als redeten wir über eine Zahnreinigung. "Hauptsache, ich kann weiterhin Golf spielen."

Schwinger Club Vol. 28: Unfassbar! Ultras schmuggeln Schläger ins Stadion
Unfassbar! Ultras schmuggeln Schläger ins Stadion
Mit Henrik Stenson hat er auf Gut Lärchenhof das Pro-Am gespielt und drückt ihm seither die Daumen, wenn er zu Hause die Turniere der Profis am Fernseher verfolgt. Das tut er seiner Frau zufolge viel zu oft. Und bei den Ladies European Masters in Hubbelrath hat er das Pro-Am mit Teamkollege Lars Bender an der Seite von Olivia Cowan sogar gewonnen. Der Ehrgeiz des Profisportlers macht natürlich auf einem Golfplatz nicht halt. Als dementsprechend schwierig empfindet es Stefan, den Frust, den man auf dem Fußballfeld in einem kochenden Stadion so herrlich ausleben kann, auf dem Golfplatz im Zaum zu halten. "Da gucken dann sofort alle pikiert." Deshalb liebt er es, wenn er auf dem Golfplatz seine Ruhe hat. "Handicap 15 möchte ich schon irgendwann erreichen. Und nach meiner Karriere öfter mal mit Kumpels den ein oder anderen Golftrip unternehmen." Wirtschaftlich sollte das möglich sein, wie uns der Bentley mutmaßen lässt, mit dem er zu unserem Treffen erscheint. Abama Golf auf Teneriffa sei der für ihn bislang schönste Platz in seiner Golflaufbahn gewesen.

Was kaum einer weiß: Stefan Kießling hat ein Buch geschrieben. Keine Biografie, sondern ein Kochbuch. In jungen Jahren hatte er eine Lehre zum Koch begonnen. Als ihm sein Chef dann aber mitteilte, dass er bezüglich der Arbeitszeiten sehr flexibel sein und auch samstags arbeiten müsste, war die Nummer ganz schnell vorbei. "Heute ist es mein Hobby, denn ich koche nach wie vor gerne", erzählt der Autor von "Erfolgsrezepte". So wird er sicher auch eines dafür finden, wie er seine letzte Saison erfolgreicher gestalten wird, als es die sogenannten Fachleute vorhersehen. Bayer-Coach Heiko Herrlich setzt aktuell auf andere Stürmer, sodass "Kies" den Anpfiff eines Spiels zumeist auf der Ersatzbank erlebt. Eine unbefriedigende Situation. Aber es werden auch in dieser Saison Spiele kommen, in denen sein Torriecher gefragt sein wird. Und dann wird Stefan Kießling zur Stelle sein und knipsen. Erst ab Juni 2018 wird das neueste Mitglied in unserem Schwinger Club seinen Fokus verstärkt auf das Golfspiel verlegen. Alles Gute dabei!

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