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Wegweisend: Fachsimpeln mit dem Caddie vonnöten

Special Olympics 2023

Die besondere Zutat

Von Jan Langenbein, Fotos: Christoph Tiess

Während Profi-Golf durch Heuchelei, Kommerz und grenzenlose Hybris Selbstdemontage betreibt, hilft ein Blick über den Tellerrand, um von Athletinnen und Athleten, deren Namen keine Schlagzeilen schmücken, gezeigt zu bekommen, was der wahre Spirit dieses Spiels und die Definition von Sportsgeist ist.

Als sich in Tokio 2021 Xander Schauffele, Paul Casey, Rory McIlroy und - beinahe hat man es schon wieder vergessen - Rory Sabbatini um olympisches Edelmetall stritten, legte der Leader-Flight nach neun Löchern am Finaltag keine Mittagspause ein. Schade eigentlich, denn Lunchpakete bestehend aus Sandwiches, Energieriegeln, Bananen und Wasser, wie sie hier auf dem Faldo-Course in Bad Saarow gerade Mitchell Brown aus Neuseeland, Frederik Brokfelt-Christiansen aus Dänemark und Leonard Kane aus Australien ein Lächeln auf die Gesichter zaubern, scheinen die Anspannung des Wettkampfs sofort vergessen zu lassen. Das hier ist schließlich keine gemütliche Feierabendrunde - hier und heute geht es ebenfalls um olympische Medaillen. Nach Runden von 72, 73 und 75 führt der Neuseeländer mit komfortablem Vorsprung vor seinem dänischen Konkurrenten. Der hünenhafte Longhitter aus Australien hat sich mit einem unglücklichen Doppel-Bogey an Loch 7 kurz zuvor aus dem Rennen um den Sieg verabschiedet. Trotz des hitzigen Wettbewerbs unterhalten sich die drei Wettkämpfer Sandwich kauend lieber über die beeindruckende Eröffnungsfeier der Special Olympics sechs Tage zuvor im Berliner Olympiastadion, darüber, welche anderen Athleten sie bisher getroffen haben und welches "deutsche" Gericht bisher am meisten überzeugt hat. Döner - was sonst?

Irgendwann klatscht Mitchs Vater Mike in die Hände und lässt die Athleten sowie die knapp 30 Angehörigen und Schlachtenbummler, die sich der Gruppe angeschlossen haben, mit dickem Kiwi-Akzent wissen, dass es Zeit ist weiterzuspielen: "Let's go, boys! Lunch break is over." Als guter Caddie weiß Mike, dass Loch 10 ein Par 5 ist, und drückt seinem Sohn automatisch den Driver in die Hand, schließlich spielte der Führende vom Tee bisher so sicher wie eine Schweizer Bank. Doch keine halbe Sekunde, nachdem der Driver-Kopf auf den Ball getroffen hat, stöhnt Mitch bereits: "Oh nein! Doch nicht dorthin...", denn der Ball schießt mit einer riesigen Linkskurve ins Rough. "Ich versuche es gleich noch mal", lächelt er in Richtung seines Vaters und hämmert seinen provisorischen Abschlag 250 Meter das Fairway hinunter. "Guter Drive!", nickt Frederik zustimmend, und als kurze Zeit später Mitch das Doppel-Bogey notieren muss, freut sich der Neuseeländer trotzdem riesig, schließlich hat er für diese 7 auf der Scorekarte gerade einen Fünfmeter-Putt gelocht. Das zuvor eingesammelte Lob gibt er umgehend an seinen dänischen Kontrahenten zurück, der zum Birdie gelocht hat: "Großartiger Putt, Fred!" Mitchells Schwester, ihr Freund und die Großeltern aus den USA spenden frenetischen Applaus, während sich die Gruppe auf den Weg zum elften Tee macht und von der Driving Range die Musik der beginnenden Siegerehrungen zu hören ist. Doch so weit ist der Flight der Führenden noch lange nicht.

Special Olympics 2023:

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EINEN MEDAILLENSPIEGEL WIE BEI DEN OLYMPISCHEN SPIELEN GIBT ES BEI DEN SPECIAL OLYMPICS BEWUSST NICHT. DIESE WETTBEWERBE SIND KEIN KRÄFTEMESSEN DER NATIONEN.
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Knapp 7.000 Athletinnen und Athleten aus über 190 Ländern haben sich in dieser Woche in Berlin versammelt, um mit den Special Olympics World Games 2023 das größte Sport-Event in Deutschland seit den Olympischen Spielen 1972 in München zu feiern. Was 1963 als kleines, von John F. Kennedys Schwester Eunice Kennedy-Shriver organisiertes Sportcamp für ihre Schwester Rosemary, die im Alter von 22 Jahren nach einer missglückten Operation am Gehirn mit der geistigen Kapazität einer Zweijährigen im Rollstuhl landete, begann, hat sich längst zur weltweit größten Sportbewegung für Menschen mit geistiger Behinderung und Mehrfachhandicap entwickelt. Das Ziel der Special Olympics, als Inklusionsbewegung Menschen mit geistiger Behinderung durch Sport zu mehr Anerkennung, Selbstbewusstsein und letztlich zu mehr Teilhabe an der Gesellschaft zu verhelfen, prägte eine Woche lang das Stadtbild von Berlin und auch die Anlage des Golf Club Bad Saarow im Precise Resort am Scharmützelsee, dem einzigen Austragungsort der Spiele in Brandenburg.

Gut 80 Volunteers, zahlreiche Coaches aus aller Herren Länder und unzählige Familienangehörige der Aktiven garantieren um und auf den Golfplätzen des riesigen Resorts nicht nur einen reibungslosen Ablauf der in ihrer Anzahl für Neulinge unter den Zuschauern kaum zu überschauenden Golfwettkämpfe, sie sorgen auch für eine Stimmung, die mehr an ein Familientreffen als an ein Sport-Großereignis erinnert. Unter ihnen ist Bradley Kerr so etwas wie die gute Seele im deutschen Team und mit dem offiziellen Titel Competition Manager Ansprechpartner für alles und jeden. "Das ist wirklich ein unglaubliches Event! Das sind meine vierten Special Olympics und hier spielen wir auf einem Platz, der bereits für den Ryder Cup im Gespräch war. Golfwettbewerbe auf einem solchen Niveau haben wir bei den World Games bisher noch nicht erlebt." Damit meint der gebürtige Schotte, der sich im Bielefelder Golfclub bereits seit 20 Jahren um die Inklusion Behinderter in den Golfsport kümmert, nicht nur die Anlage selbst, sondern auch die sportlichen Leistungen auf dem Faldo-Course, immerhin einer der schwierigsten Golfplätze Deutschlands. "Es ist toll zu sehen, dass wir in Level 5 nun auch ein paar junge Bengels dabeihaben, die richtig gutes Golf spielen."

Special Olympics 2023: Unified-Partner-Format: praktisch wie Scramble (l.). Nationaltrikot: Tiger gefällt das (r.)Special Olympics 2023: Unified-Partner-Format: praktisch wie Scramble (l.). Nationaltrikot: Tiger gefällt das (r.)
Unified-Partner-Format: praktisch wie Scramble (l.). Nationaltrikot: Tiger gefällt das (r.)
Level 5 sind die Athletinnen und Athleten, die in vier 18-Loch-Runden Zählspiel ganz wie bei Profiturnieren antreten. Vereinfacht gesagt spiegeln die Level 1 bis 5 das jeweilige Leistungspotenzial der Teilnehmenden wider. Bei den Special Olympics wird nicht nach Art oder Schwere der Behinderung eingeteilt, sondern lediglich das Leistungsvermögen berücksichtigt, um eine bestmögliche Chancengleichheit sicherzustellen. Innerhalb dieser Levels erfolgt dann eine Einteilung in homogene Leistungsgruppen anhand festgelegter Kriterien wie Leistungsvermögen, Alter oder Geschlecht, damit alle Teilnehmenden eine faire Chance haben, eine Medaille zu gewinnen. Doch das Edelmetall ist bei den Special Olympics ohnehin Nebensache. Natürlich freut sich das gesamte deutsche Team über die Goldmedaillen von Anna Mannheims und Clemens Schmidt und neben der Silbermedaille für Paul Kögler aus München und der bronzenen von Stefanie Lutz vom Golf-Club Curau erspielte sich die deutsche Mannschaft noch eine ganze Reihe weiterer Medaillen, aber einen Medaillenspiegel wie bei den Olympischen Spielen gibt es bei den Special Olympics bewusst nicht. Diese Wettbewerbe sind kein Kräftemessen der Nationen und deshalb wussten selbst die Verantwortlichen für das gesamte deutsche Team am Ende der Spiele nicht genau, wie viele Medaillen deutsche Athleten in den über 400 Wettbewerben gewonnen hatten. Es waren auf jeden Fall mehr als 200.

"Der sportliche Wettkampf wird hier ernst genommen, ist jedoch nicht der Kern der Veranstaltung", erklärt Bradley, während auf der Driving Range schon die ersten Siegerehrungen der verschiedenen Levels über die Bühne gehen. "Der Umgang aller Teilnehmer ist sehr liebevoll und selbst Probleme wie gestern mit der Klassifizierung sind sehr schnell wieder vergessen. Von der Verbissenheit so mancher Sport-Events ist hier nichts zu spüren und ich denke, viele Profis könnten sich davon eine Scheibe abschneiden."

Währenddessen wird es auf dem Faldo-Course noch mal spannend, denn Mitchell Brown musste einige Bogeys auf seiner Scorekarte notieren. Der 20-Jährige, der auf Great Barrier Island lebt und trainiert, wurde vor drei Jahren von seinem Vater auf die Special Olympics in Berlin aufmerksam gemacht und hat sich in den vergangenen 36 Monaten nicht nur zum Ziel gemacht, an den Wettkämpfen in Berlin teilzunehmen, sondern auch, als Sieger wieder nach Hause zu fliegen. Im Laufe seines Lebens musste er zahlreiche Herausforderungen bewältigen, nicht zuletzt das Aufwachsen ohne Mutter, die, als Mitch gerade 18 Monate alt war, an Krebs verstarb. Von Geburt an litt Brown unter zahlreichen gesundheitlichen Problemen und intellektuellen Entwicklungsschwierigkeiten, doch seine Neugier und sein Wettbewerbsgeist haben ihn bis hierher an die Spitze des Leaderboard bei den Special Olympics gebracht.

Special Olympics 2023: Große Freude: Gleich gibt's Lunch
Große Freude: Gleich gibt's Lunch
Als die Gruppe der Führenden auf dem 18. Grün ankommen, ist Browns Vorsprung bis auf vier Schläge dahingeschmolzen und Frederik Brokfelt-Christiansen hat tatsächlich einen machbaren Birdie-Versuch vor dem Putter. Zwei Putts später steht eine beachtliche 71 auf der Scorekarte des Dänen, der damit die einzige Runde unter Par der Wettbewerbe spielte und Bradleys Einschätzung, dass diese Jungs sehr beachtliches Golf spielen können, eindrucksvoll untermauerte.

Der Neuseeländer lässt mit einem sicheren Par am Schlussloch nichts mehr anbrennen und sichert sich mit insgesamt 299 Schlägen die lang ersehnte Goldmedaille. "Fred hat es mir wirklich schwer gemacht heute. Er hat fantastisch gespielt und ich bin unglaublich froh, dass ich mit ihm und Leonard heute Golf spielen konnte", freut sich einer der vielen Sieger dieser Spiele noch auf dem 18. Grün ins iPhone des amerikanischen Offiziellen, der diesen ergreifenden Moment live in die Welt hinausstreamen möchte. Jedoch ist der schätzungsweise 60-Jährige ganz offenbar kein Digital Native, denn er vergisst doch glatt, den Aufnahmeknopf zu drücken. Als es ihm auffällt, hat Mitchell Brown längst sein Interview mit der "Sportschau" beendet und wird von seiner jubelnden Entourage auf den Schultern in Richtung Siegerehrung getragen. Doch dieses technische Malheur ist im Kontext dieser Tage eigentlich vollkommen egal, denn um die einmalige Atmosphäre dieses Golfturniers miterleben zu können, muss man live dabei gewesen sein.

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