Genau darum ist Stefan Kretzschmar einer der besten Interviewpartner überhaupt. Während eines Gesprächs mit dem einstigen Handball-Punk werden keine Phrasen gedroschen und kein PR-Schmalz verzapft. Stefan sagt, was er denkt. Das kann nach hinten losgehen - wie 1996, als ihn der damalige Bundestrainer Heiner Brand aus der Mannschaft warf. Es ist allerdings auch das Pfund, mit dem Stefan heute seine Medienkarriere anschiebt: Kein anderer ist so authentisch und glaubwürdig in seinen Analysen und Einschätzungen wie "Kretzsche".
»Vorlegen macht mich absolut wahnsinnig. Es muss immer angegriffen werden.«
An dieser Stelle unterbrechen wir unser Gespräch und marschieren in Richtung Fotoset auf der Driving Range des Golfclubs Leipzig. Vorbei an einem Cipping-Grün, auf dem gerade eine Hand voll Teenager am kurzen Spiel feilt. Sichtlich befremdet kommentiert "Kretzsche" den Eifer: "So etwas würde mir nie einfallen. Ich trainiere nicht gern. Wenn ich schon mal Zeit habe, dann möchte ich auf den Platz." Das zeigt sich auch beim Photoshooting. Nach jeder Pose greift Stefan zum Schläger und prügelt Bälle die Driving Range hinunter. Ein Blick auf seine enormen Oberarme lässt erahnen, wie weit er den Ball schlagen kann. "Die Wahrscheinlichkeit, dass ich beim Longest Drive das Fairway treffe, ist ziemlich klein, da ich den Ball dann auf den Mond schlagen möchte. Aber wenn er auf dem Fairway liegt, dann bin ich auch vorne mit dabei."
Parallelen zwischen Stefan, dem Handballer, und Stefan, dem Golfer, sind unverkennbar. Mit dem Kopf durch die Wand - so spielte er Handball und so spielt er auch Golf. "Ich musste erst lernen, dass man an dieses Spiel nicht mit Aggression herangehen kann, wozu ich nun mal sehr neige. Es kam früher öfter vor, dass ich nach einem schlechten Schlag vor Wut den Schläger zerdeppert habe. Aber man lernt schnell, dass dann beim nächsten Schlag überhaupt nichts mehr läuft."
So wird auch klar, warum jemand, der einen nachweislich extrem harten und körperlichen Sport auf Weltniveau betreibt, Spaß am Golfen findet. "Zu meiner aktiven Zeit war es der perfekte Ausgleich zum Handball: Auf der einen Seite gab es den vollen Kontakt und eine Menge Aggression und auf der anderen Seite Golf. Als Profisportler braucht man so etwas. Manche gehen im Park spazieren und ich habe Golf entdeckt. Es war eine gute Möglichkeit runterzukommen."
Seine Spieltaktik klingt jedoch nicht nach runterkommen. "Vorlegen macht mich absolut wahnsinnig. Es muss immer angegriffen werden." Und auch der Kontakt mit Golferinnen jenseits der 50 stellt Stefans Seelenbalance auf die Probe. "Es macht mich fertig, wenn ich mit einer älteren Frau spiele, die den Ball nur 50 Meter nach vorne bewegen kann, am Ende aber mit weniger Schlägen im Loch ist. Da könnte ich durchdrehen." Auch sechs Jahre nach Beendigung seiner aktiven Handballkarriere steht für Stefan der Wettkampfgedanke im Vordergrund. Und nirgendwo kann er den besser ausleben als auf dem Golfplatz. Verlieren? Das war als Handballer das Schlimmste und auch als Golfer ist das keine Option.
"Wenn man als Leistungssportler in seinem Sport alles erreicht hat, ist es eine Herausforderung, im Alter mit einer neuen Sportart zu beginnen, in der man eigentlich nicht zu Hause ist. Erfolge in diesem neuen Umfeld feiert man dann auf ganz andere Art und Weise." Die Frage nach der sportlichen Leistung, die ihn am meisten stolz gemacht hätte, beantwortete er einmal mit: "Das erste Birdie beim Golf." Erstaunlich für einen der erfolgreichsten Handballer, die Deutschland je hervorgebracht hat! Stellt sich die Frage, wie er sein erstes Eagle wohl feiern wird, wenn ein Birdie bereits ein solch einschneidendes Erlebnis gewesen ist. "Dann lass ich mir ein neues Tattoo stechen. Einen Adler. Keinen René Adler, aber einen Adler." War auch das ein Witz? Stefan lacht jedenfalls und greift zum nächsten Range-Ball.