Meine Eltern hatten mich im frühen Teenageralter (wir reden hier tatsächlich noch von den 80ern) in den Sommerferien für vier Wochen zu einer Gastfamilie ins britische Seebad Brighton geschickt, auf dass meine englischen Sprachkenntnisse das gewöhnliche Unterstufen-Schulenglisch übertreffen sollten. Das hat nicht funktioniert. Aber dafür war ich ein paar Mal im Stadion und bin glühender Anhänger des ortsansässigen Fußballclubs Brighton & Hove Albion geworden. Die "Seagulls" sind in den Folgejahrzehnten bis in die vierte Liga durchgereicht worden, in den letzten zehn Jahren aber wieder auferstanden. Tatsächlich ist aktuell die beste Zeit in der Vereinsgeschichte der Südengländer, die in dieser Saison sogar ans Tor zur Champions League klopfen.
Fußball und Golf, Golf und Fußball - dieser göttlichen Kombination lässt sich nirgends auf diesem Planeten besser frönen als auf der Insel. Dafür kann man dann auch schon mal am Sonntagmorgen um vier Uhr ins Auto steigen und gen Kanalküste brettern. Nach vier reibungslosen Stunden, in denen sich die beiden Nerds im Wagen sämtliche Fußball- und Golfquizfragen ausgedacht und beantwortet haben, sind wir in Calais angekommen und müssen am Terminal für den Eurotunnel noch etwas Zeit totschlagen, da man bei solchen Autofahrten mit einem Termin für den Autozug immer etwas Puffer einplant. Plötzlich steht ein kleiner Junge in einem Brighton-Trikot vor mir, der mich unschwer als Gleichgesinnten ausgemacht hat. Dann gesellt sich dessen Familie hinzu, die van Hecke heißt und denselben Weg hat wie wir. Tatsächlich handelt es sich um den Bruder und Neffen von Jan Paul van Hecke, dem niederländischen Innenverteidiger von Brighton & Hove Albion, der am gleichen Nachmittag mit seinem Team auf Tottenham Hotspur trifft. Nach der obligatorischen Fußball-Fachsimpelei fahren wir auf den Autozug, der in 35 Minuten unter dem Ärmelkanal hindurchfährt. Ein Trip wie in einer Zeitmaschine: Du fährst um 10:30 Uhr los und kommst um 10:05 Uhr an - let's do the time warp again!

»FUSSBALL UND GOLF, GOLF UND FUSSBALL - DIESER GÖTTLICHEN KOMBINATION LÄSST SICH NIRGENDS AUF DIESEM PLANETEN BESSER FRÖNEN ALS AUF DER INSEL.«
Fabian Hürzeler, der in der vergangenen Saison den FC St. Pauli in die Bundesliga führte, hat im Sommer 2024 den Brighton & Hove Albion FC übernommen und wurde so der jüngste Cheftrainer der Premier-League-Historie. Heute geht's also gegen Tottenham Hotspur, die zuletzt fünfmal in Folge siegreich waren, im einige Kilometer außerhalb gelegenen, wunderschön in die Hügellandschaft integrierten "Amex". Vor Spielbeginn wird noch Pascal Groß emotional verabschiedet. Der deutsche Nationalspieler ist nach sieben Jahren als Premier-League-Rekordtorschütze des Vereins und Clublegende zum BVB gewechselt. Ich habe schon viele Spiele der Blau-Weißen gesehen und kenne die Verantwortlichen ihrer Medienabteilung, die in mir mittlerweile einen Talisman sehen, da ich noch keine Niederlage erleben musste. Und jetzt das: 0:2 zur Halbzeit! Chancenlos! Aber: Wunder heißen Wunder, weil sie sich weder ankündigen noch vorhersehbar sind. All jene unter den 32.000 Fans, die aus Verzweiflung vorzeitig das Stadion verlassen, zahlen dafür einen gigantischen Preis. Alle anderen erleben in 18 unglaublichen Minuten einen dieser magischen Momente, in denen Wunschdenken anstelle der Logik tritt. Mit dem 1 : 2 direkt nach der Pause wechselt das Momentum, das Stadion erwacht. Mit dem 2:2 sind wir in einem Hexenkessel, der mit dem 3:2 förmlich explodiert. Was. Für. Ein. Comeback. Im Pressezentrum treffe ich nach den nervenaufreibenden 90 Minuten meine Freunde vom BHAFC. Auf meine Nachfrage, ob sie jemals gezweifelt hätten, obwohl sie wussten, dass ich da bin, ernte ich ungläubiges Kopfschütteln. Und die Moral von der Geschicht: Wunder kündigen sich vielleicht nicht an, aber es lohnt sich, auf sie zu warten. Mit zufriedener Fanseele machen wir uns auf die nächtliche Fahrt an die Ostküste ins Örtchen Sandwich, 20 Kilometer nördlich von Dover.
Es ist stockdunkel, als wir nachts im Regen einen kleinen Weg die Küste entlangfahren, der selbst als Einbahnstraße schon knapp bemessen wäre und trotzdem Gegenverkehr erlaubt. Wie, zum Geier, kann hier die Open ausgetragen werden mit den Riesentrucks der TV-Anstalten und all der Logistik und Infrastruktur eines Großereignisses, dem täglich bis zu 50.000 Zuschauer folgen? Nicht unser Problem. Wir befahren geschichtsträchtigen Boden. Erst passieren wir den Royal Cinque Ports Golf Club, Gastgeber der Open 1909 und 1920. Nur einen Kilometer weiter taucht in unserem Scheinwerferlicht ein aktuelles Mitglied der Open-Rota auf: Royal St. George's (15-mal Austragungsort, zuletzt beim Sieg von Collin Morikawa 2021). Neben dem 14. Abschlag des wohl prestigeträchtigsten Platzes der Gegend steht das ursprüngliche Clubhaus des kaum schwächeren Prince's Golf Club, das nach einem Brandschaden in eine gemütliche Lodge mit Pub, Restaurant und 38 Zimmern verwandelt wurde.


Am nächsten Morgen das nächste Wunder: blauer Himmel, Sonne und - Windstille! Der grün-braun-ockerfarbene Teppich des Prince's Golf Club liegt an dieser idyllischen Küstenlandschaft vor uns. 27 Löcher Championship-Links-Golf at its best aufgeteilt in die drei Neunlochschleifen Dunes, Shores und Himalayas. 1907 eröffnet und im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstört wurde der Platz von 1950 bis 1952 wieder aufgebaut, wobei die meisten der ursprünglichen Grüns in das neue Design integriert wurden - auch wenn sie heute aus anderen Richtungen angespielt werden. Zudem gibt es seither keine blinden Abschläge oder Annäherungsschläge mehr. 2017 wurde der Platz von Martin Ebert noch einmal einer umfassenden Renovierung unterzogen. Von 2018 bis 2022 wurden hier die finalen Qualifikationsrunden für die Open gespielt.
Wir betreten den Platz, wie ein Autofreak sich einem Ferrari nähert. Aber im Gegensatz zur Verfallszeit blecherner Schönheit wird diese Herrlichkeit der Natur am Ärmelkanal mit den Jahren nur noch großartiger. Attraktivität hat aber stets auch ihre Macken: Zur Hochsaison kommt man erst für gut 200 Euro (am Wochenende: 225 Euro) mit dem netten Herrn im Pro-Shop für 18 Löcher ins Geschäft - was aber das deutlich günstigste Greenfee der drei Links-Plätze ist, die sich im Grunde nur unwesentlich voneinander unterscheiden. Royal St. George's weist etwas größere Höhenunterschiede auf und Royal Cinque Ports ist etwas enger als Prince's, aber alle liegen auf demselben großartigen Grund und Boden. Das golferische Schnöseltum bezahlt im Royal St. George's satte 415 Euro. Das Paradies ist bekanntlich auch nicht zu teuer mit dem Tod bezahlt. Dafür müssen die Bessergolfer in diesem deutlich steiferen Club auch ihr Krawättchen zum Anzug im Clubhaus anlegen.

Nach der Runde trinken wir im Clubhaus mit Pressesprecher Joe Skendrovic und Club-Managerin Ali McGuirk noch ein letztes Pint. Sie erzählen uns von ihren anstehenden Aufgaben und wir lassen unsere Erlebnisse Revue passieren - ähnliche Gespräche haben hier sicherlich auch schon 1907 stattgefunden. Die anschließende Heimfahrt nach Deutschland ist deutlich anstrengender als die Hinfahrt, auf der die Vorfreude noch die große Antriebsfeder war. Um 22 Uhr mache ich in Köln den Motor aus und falle tot ins Bett. Mein anonymer Kollege hatte recht: More goes not!