Noch vor zweieinhalb Stunden zweifelte niemand an seinem Sieg, so traumwandlerisch sicher hatte er seinen Ball an den drei vorangegangenen Tagen über die 18 Löcher des Open-Platzes manövriert. Spieth hatte die Möglichkeiten für gute Scores an den Sonnentagen Donnerstag und Samstag genutzt und den widrigen Bedingungen des Freitags getrotzt. Doch dann geht es zum finalen Akt, ans Eingemachte, und man kann es nicht anders formulieren: Der Amerikaner spielt grauenhaftes Golf. Sichtlich nervös schenkt er seine Führung bereits nach vier Löchern daher, überlässt zwischenzeitlich Kontrahent Matt Kuchar mit einem devoten Knickser Platz eins. Die größte Katastrophe soll aber noch kommen. Der Abschlag an der 13 ist ein markerschütternder Push-Slice, der 30 Meter rechts des Fairways nicht nur einen Zuschauer am Kopf trifft, sondern zu allem Überfluss noch irgendwo im Niemandsland zwischen Trucks, Zuschauern und Driving Range in unspielbarer Lage im knöcheltiefen Rough verschwindet. Es ist gerade mal 15 Monate her, dass Spieth nach ebenso makellosen Auftaktrunden beim Masters auf Loch Nummer 12 einen astreinen Jean van de Velde performte und einen ebenso sicher geglaubten Sieg wegwarf. Was den weit über 50.000 Zuschauern auf der Anlage und den Millionen Fans vor den Flatscreens in aller Welt durch den Kopf geht, ist klar: "Oh mein Gott! Er hat es schon wieder getan!" Nach einer schier unendlich langen Pause steht Spieth auf der Driving Range, 210 Meter und ein Meer von Rough, Dünen und Pot-Bunker trennen ihn vom Grün. Gerade muss er einen Strafschlag notieren und braucht nun das wohl beste Bogey in der Geschichte der Major-Turniere. Die Quoten? Schlecht! Doch dann zückt Spieth sein Titleist-718TMB-Utility-Eisen und macht genau das: Er spielt das beste Bogey der Major-Geschichte. Aber der Reihe nach...


Es ist kurz vor Mitternacht. Mit Problemen, den Mietwagen auf der verdammten linken Spur zu halten, fahre ich durch einen öden Liverpooler Randbezirk. Das triste Viertel gilt als eines der schlimmsten der Stadt. Von großem Hunger angetrieben halte ich Ausschau nach einer offenen Raststätte. Tatsächlich: Unweit der Straße, in der sich dem Navi zufolge meine Unterkunft befindet, leuchtet noch ein Schild: das Goldene M. Oh Mann! Mangels Alternativen und von der Hoffnung angetrieben, beim ältesten Golfturnier der Welt standesgemäß mit feiner englischer Cuisine verpflegt zu werden, biege ich auf den Parkplatz ab. Dass ich zum xten Mal den Geisterfahrer mache und die rechte Spur nehme, erfreut drei voll tätowierte Rocker, die vor der Eingangstür Zigaretten rauchen, sichtlich.
Ich beiße gerade in die Sauce mit etwas Burger, als ein gigantischer McDonald's-Mitarbeiter breitbeinig vor meinem Tisch steht und mich anstarrt. Äußerlich könnte er problemlos die erste Geige in Frank Hanebuths Motorrad-Orchester spielen. "Gehst du etwa zum Golf?", fragt er mich mit rauer Stimme. Vor lauter Schreck drücke ich die pappigen Brötchen so eng zu sammen, dass die Sauce auf den Tisch schießt. Vielleicht habe ich zu viele englische Hooligan-Filme gesehen, aber in meinen Gedanken sehe ich ihn durch die Zähne pfeifen, woraufhin irgendwelche West-Ham-Fans aus dem Hinterzimmer stürmen und Elijah Wood mir Golfschnösel die Zähne rausprügelt. "Mate, gehst du zum Golfen, habe ich dich gefragt", reißt mich der McDonald's-Mann aus meinen Gedanken. In bester Stand-Your-Ground-Manier brülle ich ihm ein "Yeah!" entgegen - bereit, mir die Tracht Prügel abzuholen. "Wie cool! Darf ich mich setzen?", erwidert er in zwei Oktaven höherer Stimmlage. Woher er wisse, dass ich wegen des Majors hier bin, will ich von dem Mann mit Stephen-Namensschild auf der Brust wissen. Er zeigt auf meine Open-Merchandise-Jacke. Touché. Während ich mich sammle, erzählt mir der Golfenthusiast irgendwas von seinem Handicap, einem Sieg von Rory McIlroy und der Bedeutung des Turniers, wobei ich die klebrige Sauce vom Tisch entferne. Zum ersten Mal wird mir klar, dass dieses Golfturnier anders sein wird als alle anderen, die ich bisher erlebte.
Die Open 2017 sind mein erster Ausflug zu einem Major.

"Sag auf keinen Fall ,British Open'!", gaben mir Open-Veteranen in der Redaktion mit auf den Weg. "Das machen nur Amerikaner." Die Debatte, wie das älteste Golfturnier der Welt denn nun genannt werden sollte, wurde wie wahrscheinlich in jedem Jahr auch außerhalb der GolfPunk-Tür geführt. England-Legende Nick Faldo war kürzlich das Gezerre um The Open, The Open Championship, Britisch Open oder einfach nur Open zu viel. Mit feinstem Sarkasmus schlug er öffentlich vor: "Nennt es doch einfach nur noch The."
Als ich nach zwei Sicherheitskontrollen und an schwer bewaffneten Polizisten vorbei zum ersten Mal den heiligen Rasen der The betrete, werde ich so britisch empfangen, wie es nur geht: Eiseskälte im Juli. Doch nicht nur das Wetter erfüllt alle Klischees des größten Inselstaats Europas. Am ersten Tee skandiert ein in die Jahre gekommener Brite laut "Uwe Seeler! Uwe Seeler! Uwe Seeler!", als er hört, dass sein Sitznachbar Deutscher ist. Im Mutterland des Fußballs wird ein guter Stürmer beinahe immer noch so angehimmelt wie die ewig lebende Queen. Diesmal pilgern Engländer sämtlicher Altersklassen jedoch nicht wegen des runden Leders auf die perfekt gemähte Wiese in Birkdale. Unter großem Applaus betritt Phil Mickelson den Abschlag. Von der Tribüne aus schaue ich die erste Bahn hinunter. Das Fairway ist so schmal, dass selbst ein Smart Mühe hätte, hier einen U-Turn hinzulegen. Zwei Jungs eine Reihe vor mir lesen anscheinend meine Gedanken. "Hier muss man ganz klar einen Driver spielen", sagt der eine zu seinem Kumpel, woraufhin dieser vor Lachen fast von der Plastiksitzschale fällt. "Du würdest nur rumdümpeln und das Tee niemals mehr verlassen." Ob die Spieler es hörten oder nicht: Diese Ängste teilen die meisten von ihnen mit den zwei sichtlich angetrunkenen Fans und greifen vermehrt zu langen Eisen. Phil Mickelson lässt seinen Driver sogar in der Caddie-Halle.


TEAM ALFIE
Wie sein außerirdischer Namensvetter kam Alfie Plant als Unbekannter und ging als Berühmtheit. Schuld daran ist neben der Silbermedaille für den besten Amateur auch der größte Fanclub des Turniers.Schon am Sonntag vor der Turnierwoche pilgerten 150 Fans mit einheitlichen Shirts, Caps und Bannern aus dem südöstlichen London nach Southport. Der größte Fanclub bei der Open Championship unterstützte nicht Fanlieblinge wie Rickie Fowler oder Andrew "Beef" Johnston. Sie nahmen den weiten Weg für einen Amateur auf sich: Alfie Plant. Der 25-jährige Brite ist schon im Vorfeld des Turniers der Held der englischen Arbeiterklasse. Sein Vater ein Paketzusteller, seine Mutter Postbotin: Allein der Gesellschaftsstatus der Londoner Familie macht den Amateurspieler bei vielen Fans zum Sympathieträger. Als klar war, dass Alfie bei dem größten Golfturnier des Landes an den Start gehen würde, mobilisierte Plant senior mehr Leute, als so manche zu ihrer Hochzeit einladen, um den Sohnemann im entfernten Birkdale anzufeuern. Der akustische und visuelle Support schien zu fruchten: Als Einziger der fünf Amateure schaffte Alfie Plant den Cut und gewann die Silbermedaille für den besten Amateur des Turniers. Am dritten Open-Tag gelang ihm sogar eine 69er-Runde, was seine Entourage zu einer Jubelorgie veranlasste. Im Pavillon hinter dem 18. Grün feierten seine Fans so laut, dass sie gewarnt wurden, ruhig zu sein. Sie störten die Spieler beim Putten. Arnold Palmer hatte Arnie's Army, Alfie Plan hat Team Alfie - ob die Karrieren ähnlich verlaufen werden, sei dahingestellt. Nach dem Erfolg bei der Open Championship wird er im September den nächsten Schritt machen und Profi werden. An seiner Seite: Team Alfie.
Einmal ergattere ich glücklicherweise einen Tribünenplatz direkt hinterm Grün und schaue gerade Richard Bland beim Putten zu, als der gut 400 Meter entfernte Abschlag explodiert. "Rory", flüstern sich die Zuschauer per stiller Post zu. Und dann packt es auch mich. Verfolgt von einer gigantischen Menschenmenge geht McIlroy wie der Messias in Person schnurstracks auf seinen Ball zu, zieht sein Wedge aus der Tasche, knallt den Ball in die blendende Sonne - und als die Kugel zehn Zentimeter neben der Fahne wie ein Meteorit vom Himmel fällt, schreie auch ich meine Begeisterung heraus und balle eine Faust. Was für ein Teufelskerl!