Als wir 60 Minuten später aus dem Hotel treten, sind wir dennoch nicht die Ersten an diesem Morgen. Der Schwede Marcus Kinhult und der zehn Minuten später startende Engländer Alex Fitzpatrick sind bereits im Wentworth Golf Club, um für ihre Abschläge um 6:50 Uhr bzw. 7:00 Uhr fit zu sein. Wie ihnen das gelingen soll, ist uns ein Rätsel, denn viel Schlaf können sie nicht getankt haben. Am Vortag hielt eine große Lieferdienstkette eine Betriebsfeier ab, deren Bässe die in die Jahre gekommenen Wände unseres Spielerhotels bis tief in die Nacht erschütterten. Zum Glück müssen wir nicht selber fahren, denn wie die Spieler kommen wir in den Genuss des kostenlosen Shuttle-Services von Hauptsponsor BMW. Obwohl die Abholzeit auf 5:40 Uhr festgelegt war, steht unser Fahrer Ian bereits abfahrbereit vor dem Hotel und ist während der 15-minütigen Fahrt zur Anlage in bester Plauderlaune.
Ian und all seine Kollegen, die uns in dieser Woche chauffieren, kommen nicht nur hauptberuflich als Fahrer bei globalen Sportgroßereignissen zum Einsatz, sondern sind auch begeisterte Golfer. Professionell ist auch, dass sie sich die Enttäuschung nicht anmerken lassen, statt Rory McIlroy, Jon Rahm oder Tommy Fleetwood einen Medienvertreter durch die Gegend kutschieren zu müssen. Wir sind an diesem Morgen die erste Fahrt für Ian, der nur zehn Minuten entfernt von Wentworth wohnt und entsprechend mehr Schlaf bekommen hat als unser Donnerstags-Fahrer Peter, dessen Nacht um drei Uhr zu Ende war. Pete ist ein absoluter Routinier, was große Sportereignisse angeht, ist er doch seit 20 Jahren bei Olympischen Spielen in Einsatz. Sein anstrengendster Job war bei den vergangenen Sommerspielen in Paris, wo ihm die Verkehrsführung den letzten Nerv raubte. Ein absoluter Traum waren hingegen die Winterspiele 2018 in Pyeongchang. "Ich habe selten eine perfektere Organisation erlebt. Die Koreaner haben es als persönliche Beleidigung empfunden, wenn eine Schneeflocke auf der Straße lag", erinnert er sich mit einem Schmunzeln.

»MEIN WECKER HAT UM 3:55 UHR GEKLINGELT. 45 MINUTEN SPÄTER WAR ICH AUF DER ANLAGE UND BIN DIREKT IN DEN FITNESSTRAILER.«
Unser erster Weg führt uns ins Media Center, vor dem normalerweise ein Sicherheitsbeamter akribisch darauf achtet, dass auf dem Akkreditierungsschein die richtige Superzahl eingetragen ist. Jeder geschützte Bereich des Turniers ist mit einer Ziffer versehen, die auf dem persönlichen Turnierpass eingetragen sein muss, um Zutritt zu erhalten. Dadurch ist sichergestellt, dass Spieler in der Players Lounge unter sich bleiben und niemand den Caddies ihr Essen klaut. Medienvertreter dürfen zur Scorerhütte, um im Anschluss Interviews zu führen, in Ausnahmefällen auf die Range und natürlich ins Media Center, wo Pressekonferenzen stattfinden, eine große Leinwand die TV-Übertragung zeigt und warmes Essen serviert wird. Doch um kurz vor sechs Uhr sind hier weder Journalisten noch das offizielle Presseteam der DP World Tour zu sehen. Und niemand überprüft, ob wirklich die Fünf auf unserem Ausweis steht.
An anderer Stelle ist die Security jedoch selbst am frühen Morgen überambitioniert. Ein Security-Beamter hält uns davon ab, den öffentlichen Gehweg hinter dem ersten Tee zu betreten, sodass wir den Weg von der anderen Seite nehmen und auf Michael treffen. Seine Aufgabe an diesem Morgen ist es sicherzustellen, dass niemand den heiligen Rasen der ersten Teebox betritt. Michael ist seit 5:30 Uhr auf der Anlage, hatte allerdings von seinem Hotel noch eine 40-minütige Anfahrt hinter sich zu bringen. Als wir ihn fragen, ob es für ihn hart war, an diesem Morgen aus dem Bett zu kommen, outet er sich als Frühaufsteher, beklagt aber eine besondere nächtliche Herausforderung: "Ich muss mit meinem Chef in einem Zimmer schlafen, der leider sehr laut schnarcht." Aus diesem Grund war für ihn das frühe Aufstehen eher eine Erlösung als eine Qual.
40 Minuten vor der ersten Tee-Time wird derweil das Putting-Grün deutlich belebter. Weil die Sonne noch nicht aufgegangen ist, man bei Dunkelheit Grüns aber ebenso wenig lesen kann wie Bücher, wurde nebenan ein Flutlichtmast mit Benzinmotor aufgestellt, in dessen Scheinwerferlicht Guido Migliozzi, Alex Fitzpatrick, Ben Schmidt und Co. ihre Trainingshilfen aufbauen und üben, wie im Schlaf zu putten - eine Beschreibung, die um 6:30 Uhr fast wörtlich zu nehmen ist. Auch 50 Meter weiter auf der Driving Range herrscht bereits emsiges Treiben. Während der Caddie von Niklas Nĝrgaard das Bag seines Chefs sträflich unbeaufsichtigt in einer der Abschlagboxen abgestellt hat, studiert Scott Jamieson die Daten seines Trackman-Monitors. Richie Ramsay führt derweil noch letzte Abstimmungen an seinem Schwung durch. Jedoch ist er nicht wie unsereins vom Parkplatz direkt auf die Range gegangen. Sein Morgen begann schon deutlich früher, wie uns der Schotte nach der Runde verrät. "Mein Wecker hat um 3:55 Uhr geklingelt. 45 Minuten später war ich auf der Anlage, bin direkt in den Fitness-Trailer und habe mein Warm-up gemacht, damit mein Körper bereit ist. Für mich ist das Warm-up unglaublich wichtig; seit ich 40 geworden bin, dauert es eine Weile, bis mein Körper in Schwung kommt", geht der vierfache European-Tour- Sieger ins Detail. "Bewegung ist der Schlüssel - im Englischen sagen wir auch: ,Motion is lotion'. Als ich vor 18 Jahren Profi wurde, waren morgens nur ein paar Leute im Fitnessraum, um sich aufzuwärmen. Jetzt sind alle guten Spieler und auch alle jungen Spieler vor ihrer Runde da. Weil die Bälle heute härter geschlagen werden, wächst nun mal die Verletzungsgefahr." Nach einem kurzen Frühstück und einem Tee in der Players Lounge beginnt der Schotte mit der eigentlichen Routine. "Ich mache meine Übungen mit dem Putter, um ein Gefühl für die Geschwindigkeit der Grüns zu bekommen, gehe anschließend auf die Driving Range, um ein paar Bälle zu schlagen, und schließlich rüber aufs erste Tee."


Ein interessierter Beobachter der ersten Drives ist auch Paul, der an der ersten Bahn dafür sorgt, dass kein Zuschauer illegal das Fairway kreuzt. Weil die Tore für das Publikum erst seit zehn Minuten offen sind und kaum jemand die ersten Gruppen begleitet, hat er Zeit, von seinem Morgen zu erzählen. Um sechs Uhr gab es erst einmal eine Teambesprechung für alle Freiwilligen im Wentworth Golf Club, die an diesem Morgen ungewöhnlich stark frequentiert war. Eine Gewitterunterbrechung hatte am Donnerstag dafür gesorgt, dass nicht alle Spieler ihre Runden beenden konnten, sodass um 7:45 Uhr auch schon die Bahnen 16, 17 und 18 mit Volunteers besetzt sein müssen. Für Paul war die gestrige Regenpause kein Problem, sein Arbeitsplatz ist nur 100 Meter vom Volunteer Headquarter entfernt, "aber alle am anderen Ende der Anlage mussten hoffen, in einen der Busse springen zu können, die die Spieler und Caddies zurück in das Championship Village bringen".
Um die Monotonie dieses Jobs - Seil abhängen, Seil aufhängen - aufzubrechen, werde "ein Military Drill" durchgeführt, erklärt Paul. Alle halbe Stunde rotieren vier Freiwillige ihre Positionen und werden dabei im Wechsel von einem Springer abgelöst. "Das klappt in der Theorie jedoch besser als in der Praxis", gibt Paul zu. Für ihn ist es das zweite Mal bei der BMW PGA Championship und sein zweiter Job als Freiwilliger in diesem Jahr. "Ich habe im Juli bei der Senior Open in Sunningdale gearbeitet. Das war natürlich eine Nummer kleiner und entspannter als hier." Trotzdem absolviert Paul an diesem Tag eine Doppelschicht und ist den gesamten Tag im Einsatz. Dafür bleibt er am Sonntag daheim. "Sonst bekomme ich Ärger zu Hause, wenn ich die ganze Woche auf dem Golfplatz verbringe", sagt er augenzwinkernd.

Als Angus vier Stunden später die Runde beendet hat, wollen wir von ihm wissen, ob die englischen Veranstalter immer noch nicht "Braveheart" überwunden haben und schottische Spieler mit frühen Tee-Times bestrafen. Immerhin hatte Richie Ramsay in den Jahren zuvor bereits Startzeiten um 6:40 Uhr, 7:35 Uhr und 7:20 Uhr bekommen. Die Wahrheit ist allerdings relativ profan: "Ursprünglich wurde das Turnier als ein Event mit begrenzten Plätzen angekündigt", erklärt Angus. "Später haben sie noch zwölf Startplätze hinzugefügt und dabei gleich gesagt, dass diejenigen, die als Letzte ins Feld rutschen, entweder als Erste oder als Letzte starten müssen." Dass er das Ganze locker nimmt, liegt auch am Spiel seines Bosses, der nach zwei Runden Platz sechs belegt. "Richie hat so gut gespielt, dass er mir die Chance gibt, morgen wieder etwas auszuschlafen. Wir müssen wahrscheinlich erst in 27 Stunden wieder los."
Auch für Ramsay ist dies eine Erleichterung, seine Vorbereitung ändert er deshalb allerdings nicht. "Glücklicherweise kann ich sehr gut Power Naps halten. Ich werde jetzt gleich etwas essen, einen Kaffee trinken und dann für 20 Minuten die Augen zumachen. Der Schlüssel ist, immer den gleichen Prozess beizubehalten. Das ist natürlich einfacher gesagt als getan, wenn an einem Tag der Wecker um neun Uhr morgens klingelt und am nächsten um vier Uhr in der Nacht, aber man muss versuchen, mindestens acht Stunden vorher ins Bett zu kommen und ausgeruht zu bleiben."
Mit einer Tee-Time um 12:50 Uhr ist dies natürlich leicht gesagt, für die vielen Helfer wird der nächste Tag dagegen wieder so früh beginnen - etwas, was auch Ramsay nicht hoch genug bewerten kann: "Wir haben heute früh als Zweite abgeschlagen und alle Marshals waren schon da. Das ist wirklich beeindruckend um diese Uhrzeit und bei diesen Temperaturen!", schwärmt er. "Die BMW PGA Championship hat etwas, was man nicht künstlich erschaffen kann. Dies ist wirklich unser Flagship-Event."