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St. Andrews

Szene einer Ehre

Von Rüdiger Meyer, Fotos: Getty Images

Eine Tee Time im Home of Golf steht auf der Bucketlist jedes Golfers. Entsprechend nervös sind die meisten am ersten Abschlag. Wir haben uns an einem Samstag im Juli vor das Clubhaus des R&A gesetzt und Protokoll geführt.

Das schottische St. Andrews hat viele ikonische Orte. Royalisten pilgern zum "North Point Café", in dem sich Kate und William während des Studiums zu einem Date trafen. Filmfans laufen über den East Strand, auf dem die Eröffnungsszene des Oscar-Gewinners "Die Stunde des Siegers" gedreht wurde. Und Freunde des gepflegten Biers zieht es ins "Jigger Inn" oder ins mit Fotos aller modernen Golfgrößen geschmückte "Dunvegan". Für Golfer jedoch gibt es einen magischen Ort, der alles übertrifft: der erste Abschlag des Old Course von St. Andrews. Der im Herzen der gerade mal 18.000 Einwohner zählenden Stadt gelegene Old Course ist von Gebäuden umgeben, die Golfgeschichte geschrieben haben.

Parallel zum 118 Meter breiten Doppel-Fairway der 1 und 18 verläuft die Straße The Links, in deren Eckhaus einst Allan Robertson wohnte. Der beste Golfer der Welt hinterließ bei seinem Tod 1859 ein solches Vakuum, dass die Open Championship entstand, um jemanden zu küren, der die Lücke schließt. Drei Häuser weiter, im Gebäude des heutigen "The Open Shop", war die Werkstatt von Robertsons Protegé Old Tom Morris, der Golf zu dem machte, was wir heute kennen. Hinter dem ersten Abschlag befindet sich das Clubhaus des R&A, der so elitär ist, dass Geschäftsmann Thomas Hamilton aus Rache über eine abgewiesene Mitgliedschaft das majestätische "Hamilton Grand Hotel" baute, um den poshen R&A buchstäblich in den Schatten zu stellen. Und dann ist da ja noch der gar nicht so alte "Old Pavilion". In dem erst in den 2010ern eröffneten Gebäude bekommen Spieler vor der Runde Kaffee, Meat Pie und bei Bedarf ein Pull-Cart.

Vor ein paar Jahren war der Pavillon noch Pilgerstätte für die Hoffnungsvollen und Golf-Puristen. Wer bei den Lotterien leer ausging, konnte mitten in der Nacht aufstehen, sich am Pavillon registrieren und hoffen, dass jemand krank absagt oder ein Dreier-Flight aufgefüllt werden muss. Doch in Zeiten von Mobiltelefonen, Apps und künstlicher Intelligenz gibt es keinen Platz mehr für Golf-Romantiker. Der Singles Daily Draw ist mittlerweile digitalisiert, sodass man bereits am Vorabend um 17 Uhr erfährt, ob und wann man auf den Old Course darf. Als ich mich Mitte Juli um 6:20 Uhr hinter dem ersten Tee positioniere, ist es im Vergleich zu früher dementsprechend noch recht ruhig. Aber selbst zu so früher Stunde ist es fast unmöglich, ohne Publikum abzuschlagen. Einheimische Gassigeher und vom Jetlag geplagte Touristen zieht es unweigerlich ans erste Tee, wenn sie nicht länger schlafen können.

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UM 9:50 UHR TRIFFT EINE REISEGRUPPE AM ERSTEN TEE EIN UND SUCHT NACH EINEM PERFEKTEN ERINNERUNGSFOTO. FLUGS BETTELT EINE DAME UM EINEN DRIVER, DAMIT IHR MANN DAMIT VOR DEM 18. GRÜN POSIEREN KANN.
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Nun ist das erste Fairway des Old Course alles andere als ein Nadelöhr. Knapp 32.000 Quadratmeter zählt es. Oder ausgedrückt in einer Maßeinheit, die jeder Deutsche versteht: Viereinhalb Fußballfelder stehen zur Verfügung, um den Ball sicher ins Spiel zu bringen. Doch an dem Druck, im Home of Golf abzuschlagen, ist schon manch einer zerbrochen. Als Golfprofi Zac Blair 2020 auf Twitter nach erinnerungswürdigen Golfschlägen fragte, postete ein User das Video eines Shank am ersten Tee in St. Andrews, der nur 15 Meter nach vorne, dafür aber 60 Meter nach rechts ins Aus rollte. Ich selber bin schon Zeuge geworden, wie ein Flight-Partner einen Quick Hook unter die geparkten Autos auf The Links schoss. Und selbst gestandene Profis sind nicht davor gefeit, sich bis auf die Knochen zu blamieren. 1995 spielte Ian Baker-Finch gemeinsam mit Arnold Palmer, dessen letzten Open-Auftritt Tausende Menschen sehen wollten. Der Australier bekam den Ball kaum in die Luft, traf mit dem ersten Bounce die geteerte Granny Clark's Wynd, die das Fairway kreuzt, und musste mit ansehen, wie der Ball 90 Meter links vom eigentlich anvisierten Ziel die weiße Balustrade kreuzte und ins Aus hoppelte.

Entsprechend nervös sind die Mitglieder des elitären Ballyneal Golf Club aus Colorado, die an diesem Morgen um 6:30 Uhr die Ehre des ersten Abschlags haben. Doch zuvor heißt es erst einmal, ein Ritual abzuhalten, das an diesem Tag noch Dutzende Male exakt so ablaufen wird. Der Marshal, an diesem Morgen ein junger Mann Mitte 20, begrüßt die Spieler, erklärt ihnen die Grundzüge des Old Course, hängt einem aus der Gruppe einen GPS-Tracker ans Bag und sammelt die Handys ein. Nicht weil St. Andrews plötzlich zu Augusta National geworden wäre und ein Handyverbot auf der Anlage verhängt hätte, sondern weil der Marshall in Zeiten von Social Media neben seinen üblichen Aufgaben noch einen weiteren Job ausüben muss: Fotograf. Fein säuberlich reiht er die Gruppe vor dem Clubhaus des R&A auf und drückt auf den Auslöser. Dann wird das Ganze um 180 Grad gedreht und noch einmal ein Foto mit dem ersten Fairway im Hintergrund gemacht.

Doch Fotos sind ohnehin nur für Spieler aus dem Mittel-Alter, die harte Währung für Menschen, die ihr ganzes Leben posten, sind Videos. Und so wird sich reihum angeschickt, Poser-Videos zu drehen. Nachdem die ersten beiden Abschläge das Fairway gefunden haben, zückt der Dritte aus der Gruppe den Driver, wackelt wie Keegan Bradley, blickt noch einmal nach links, ob sein Kumpel ihn auch im Bild hat, holt aus - und toppt den Ball zur Erheiterung der restlichen Gruppe. "Den werde ich wohl nicht posten...", kann er sich ein Grinsen selber nicht verkneifen. Und obwohl der Ball dank des harten Untergrunds 150 Meter gerollt ist und Mitte Fairway liegt, nimmt er zur Imagepflege auf Instagram einen Mulligan. Als die erste Vierergruppe sich auf den Weg Richtung Swilcan Burn macht, gehen sie sich aus dem Weg wie Ehepaare nach dem Termin beim Scheidungsanwalt: Die vier Bälle haben die gesamte Breite des Fairways ausgenutzt, sodass jeder fast 50 Meter Abstand hat.

St. Andrews: St. Andrews:
Währenddessen beginnen am ersten Tee die Vorbereitungen für die zweite Gruppe, die ein wenig an Fließbandproduktion in einer Fabrik erinnern. Die Starter um 6:40 Uhr und ihre Caddies kommen wie an einer Perlenkette aufgereiht aufs erste Tee gelaufen, Begrüßung, Fotos, Abschlag. Die effiziente Maschinerie führt dazu, dass schon nach kurzer Zeit die Gruppen fast zehn Minuten vor ihrer offiziellen Tee Time abschlagen. Was nach Massenabfertigung klingt, hat einen sinnvollen Hintergrund. In rund vier Stunden haben die Starter das Fairway nicht mehr für sich allein. Wenn die ersten Spieler von der 18 abschlagen, erinnert das Treiben auf dem Fairway an eine Fußgängerkreuzung in Tokio. Der schnelle Startrhythmus am Morgen ist daher nur dazu da, um die nachmittags aufkommenden Verzögerungen zu kompensieren.

FIRST-TEE-BILANZ
ABSCHLÄGE: 254
DAVON FRAUEN: 15
MULLIGANS: 8
GETOPPTE BÄLLE: 12
OUT OF BOUNDS: 4
BESCHÄDIGTE AUTOS: 0
FORE-RUFE: 9
WASSERBÄLLE: 7
BIRDIES AUF DER 18: 3
Die Hauptaufgabe für ein zügiges Spiel fällt den Caddies zu, was insofern ein schwieriges Konzept ist, da sie auf Trinkgeld angewiesen sind. Wer wie die Caddies um 10:20 Uhr die Bags von Millionären aus dem ultraexklusiven Cypress Point Club trägt, wird ihnen kaum in den Hintern treten. Vielleicht auch deshalb wurde das Trolley-Verbot gekippt. Bis vor wenigen Monaten durfte man in der Früh nur spielen, wenn man selber trägt oder einen Caddie bucht. Jetzt sieht man auch schon morgens, wie Trolleys den heiligen Rasen entweihen. Doch für die meisten Besucher gehören Caddies zum Old-Course-Erlebnis dazu - und bereits am ersten Tee trennt sich bei den Taschenträgern die Spreu vom Weizen. Während einige sich mit dem Reichen und Putzen der Schläger begnügen, verwandeln sich andere in Günther Jauch und werden zum Quizmaster. "Was ist dein Handicap?", "Spielst du gerne Driver?" und "Ist das dein normaler Ballflug?", fragen sie, um während der kommenden 17 Löcher passende Ratschläge zu geben. Einem Spieler aus der zweiten Gruppe hilft das wenig. Er produziert einen majestätischen Slice, der aber auf wundersame Weise die kleine Fairwaynase rechts vor dem Swilcan Burn findet.

Klar ist bereits am ersten Tee, wie sehr sich das Spielniveau unterscheidet. Offiziell ist ein Handicap von 36 für den Old Course Pflicht. Aber auf jeden College-Golfer wie Harrison Jaeger von der Texas State, der mit seiner Familie von den schwarzen Tees abschlägt, kommt ein Spieler, dessen Handicap seit langer Zeit in Schonhaltung ist. Doch ab 8 Uhr erhöht sich das Spielniveau erheblich. Hier setzt das Local Ballot ein, das Einheimischen mit einem Ticket des St. Andrews Links vorbehalten ist. Sie haben den Old Course in der Regel schon dutzendfach gespielt, kennen keine Nervosität und schlagen meist von den hinteren Abschlägen. Der größte Unterschied: Während Gastspieler in der Regel 30 bis 60 Minuten vor ihrer Abschlagzeit aufkreuzen und Bälle auf dem Putting-Green schieben, kommen Locals ganz entspannt erst zehn Minuten vorher angeschlendert, verzichten auf das obligatorische Foto und setzten ihre Drives Mitte Fairway. Michael und Liam aus dem St. Andrews Golf Club eröffnen an diesem Tag den lokalen Teil und haben die undankbare Situation, dass sie der einzige Zweier-Flight des ganzen Vormittags sind. Wobei: So ganz stimmt es nicht. Sie sind mit einem putzigen Labradoodle unterwegs, der den Old Course so gut kennt, dass er sich beim Abschlag seines Herrchens in Verlängerung des Balls hinter ihn setzt und die Flugbahn des Balls beobachtet. Auffällig ist jedoch, dass das Erlebnis Old Course in erster Linie eine Männersache ist: Von den gut 250 Spielern, die an diesem Tag auf die Runde gehen, sind gerade einmal 15 Frauen am Start, eine Quote von 6 Prozent. Dennoch sind viele Frauen an diesem Tag die Heldinnen der Runde. Trotz strömenden Regens begleiten sie ihre Ehemänner, halten ihnen den Regenschirm und filmen geduldig jeden einzelnen Schlag für das private Erinnerungsbuch.

St. Andrews: Verzweiflung pur: Schon am ersten Abschlag die weiße Fahne in der Hand
Verzweiflung pur: Schon am ersten Abschlag die weiße Fahne in der Hand
Noch spannender als das Geschehen auf dem Fairway ist das Drumherum. 350 Menschen beschäftigt der St. Andrews Links Trust in der Hochsaison und einen Teil von ihnen kann man an diesem Tag bei der Arbeit beobachten. Neben dem Marshal am ersten Abschlag, der von einem Springer immer mal wieder abgelöst wird, sind dies die Mitarbeiter im "Old Pavilion" und der Starter, der in seinem kleinen Kabuff vor dem R&A-Clubhaus ein wenig das Mädchen für alles ist. Seine Hauptaufgabe ist es, die Spieler zu registrieren. Was einst durch Vorzeigen einer E-Mail geschah, wird mittlerweile durch Einscannen eines QR-Codes geregelt. Anschließend erhalten alle ein kleines Täschchen mit Scorekarte, Birdiebook, Divot Tool und Tees. Wer noch weitere braucht, greift vor der Runde in eine Plastikkiste voll blauer Holztees mit St.-Andrews-Beschriftung - eine Option, die so populär ist, dass der Starter bereits um 7:13 Uhr Nachschub aus dem "Old Pavilion" holen muss. Kurz darauf ist er schon wieder unterwegs. Um Punkt 7:30 Uhr läuft er die 80 Meter zum 18. Grün rüber und tauscht den Flaggenstock aus. Als ich ihn irritiert frage, was dahintersteckt, erklärt er, dass für fotowütige Touristen zwar 24 Stunden lang eine Fahne im Loch der 18 steckt, diese aber nur tagsüber von einem Logo geziert wird, weil sie sonst als geklautes Andenken an der Wand eines Golfers landen würde.

Kurz darauf hat das 18. Grün einen Friseurtermin. Gleich zwei Mäher machen sich um 7:48 Uhr an die Arbeit und sorgen für ohrenbetäubende Stille. Der St. Andrews Links Trust hat seit einiger Zeit nicht nur Rasenmäher mit elektronischem Motor, selbst das Mähwerk ist nahezu geräuschlos - ein Segen für die Gäste der umliegenden Hotels. Laut wird es nur noch, wenn jemand ohne Rücksicht auf den Spielbetrieb Granny Clark's Wynd überqueren will. Um 9 Uhr bezieht auf der Stadtseite ein Streckenposten Position und steuert den Verkehr. Weil der Eingang auf der Gegenseite erst um 11 Uhr besetzt wird, maßregelt er bis dahin renitente Fußgänger wie Deniz Aytekin eine zu harte Grätsche: mit einem kräftigen Stoß in die Trillerpfeife. Doch als ein lauter Fore-Ruf erschallt, gerät er plötzlich selbst ins Gefahr. Ein gehookter Abschlag fliegt in seine Richtung, bleibt aber kurz vor ihm liegen. Für den Missetäter am ersten Tee ein so peinlicher Moment, dass er den Ball verschämt liegen lässt und lieber einen zweiten Ball spielt. Dass man aber auch auf dem ersten Abschlag selber nicht ungefährlich lebt, wird klar, als nach knapp vier Stunden Spielzeit das Duo mit Hund zum 18. Grün kommt. Während der eine seine Annäherung 20 Zentimeter an die Fahne legt und das erste Birdie des Tages auf der Schlussbahn notiert, hookt sein Spielpartner den Ball 100 Meter nach links, sodass er kurz vor dem "Old Pavilion" im Aus landet.

Er ist nicht der Einzige, der an diesem Tag irritierte Blicke auf sich zieht. Um 9:50 Uhr trifft eine Reisegruppe am ersten Tee ein und sucht nach einem perfekten Erinnerungsfoto. Flugs bettelt eine Dame um einen Driver, damit ihr Mann damit vor dem 18. Grün posieren kann. Dass der offenbar noch nie zuvor einen Golfschläger in der Hand gehalten hat, ist egal, Hauptsache das Erinnerungsfoto steht. 50 Minuten später rennt jemand panisch aus dem "Old Course Shop", im Arm ein Dutzend Golfbälle. Er hat Minuten vor der Tee Time realisiert, dass er keine Bälle eingepackt hatte. Und kurz vor 14 Uhr steht plötzlich ein Ritter der traurigen Gestalt auf dem 18. Grün. Er hat vergessen, dass es auch im Juli in Schottland regnen kann, und versäumt, einen Golfschirm einzupacken. Nur einen Knirps konnte er organisieren, der nach 18 Löchern so zerfleddert ist wie die vom Regen durchtränkte Scorekarte. Das Wetter ist auch der Grund, dass am Nachmittag immer mehr Lücken ins Starterfeld kommen. Zahlreiche Einheimische, die mit ihrem Links Ticket eine Flatrate für den Old Course haben, verzichten lieber auf den Start. Wer dagegen als Tourist 340 Pfund für die Runde gezahlt hat, quält sich bei jedem Wetter raus. Und so zuckeln um 16:50 Uhr noch die Australier Cameron und Ben auf den ersten Abschlag. Eine letzte Einweisung, ein letztes Foto vor dem Clubhaus und der Marshal kann endlich seine Sachen packen. Das erste Fairway gehört jetzt noch bis 21:30 Uhr den Heimkehrern von der 18, die dem Regen getrotzt haben. Ob ein Bier im "Dunvegan" heute nicht vielleicht doch die angenehmere Wahl gewesen wäre, will ich von einem von ihnen wissen. Seine Antwort dürfte jedem echten Golfer klar sein.

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