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Inside the ropes

LIV and let die

Von Tim Southwell, Fotos: Getty Images

Vor den Toren Londons wurde im Juni vorgeführt, was man für Geld alles kaufen kann. Ist dieser Budenzauber ein Blick in die Zukunft des Profigolfs oder doch der Ausverkauf einer ganzen Sportart? Ein Besuch bei den angeblichen Totengräbern der PGA Tour.

Zugegeben: Noch im Januar hatte ich keinen Schimmer von der Existenz oder bevorstehenden Existenz einer Profigolf-Serie namens LIV Golf. Als im Februar und März erste Gerüchte die Runde machten, wurde ich hellhörig. Im April war bereits ein dumpfes Grollen aus der Entfernung zu hören, das sich spätestens Ende Mai zu einem beinahe ohrenbetäubenden Lärm steigerte. Egal ob Radio oder TV, Sportfans konnten dem Flächenbombardement der LIV-Golf-Werbespots und Talkshow-Segmente nicht entkommen. Der weltweit größte Sportradiosender TalkSport mit Sitz in London funkte eine LIV-Golf-Werbung in 24/7-Schleife in den Äther. "Golf, but louder", wurde dort gebrüllt. Wieder und wieder.

Als ich am Morgen des Premierentags am Bahnhof von St. Albans ankam, hatte mich die mediale Dauerbeschallung längst davon überzeugt, zusammen mit einer riesigen Horde Golfschlachtenbummlern von Pyrotechnik, Go-go-Girls und Greg Norman höchstpersönlich empfangen zu werden. Vermutlich würde Letzterer in einem aus Gold und Diamanten geschnitzten Streitwagen vorfahren.

Bitter enttäuscht musste ich feststellen, dass außer mir lediglich vier weitere Golf-Fans den Zug genommen hatten. Sie waren leicht als solche auszumachen, weil sie über Phil Mickelson sprachen. Gewöhnliche Leute sprechen nicht über Phil Mickelson.

Am Bahnhof gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass wenige Meter von hier die propagierte seismische Veränderung der Golfwelt ihren Anfang nehmen würde. Keine Beweise für eine über unendlich sprudelnde Ressourcen verfügende Verschwörung mit dem Ziel, ein neues Golfregime zu installieren. Alles wirkte sonderbar ruhig und irgendwie unheimlich. Die Sonne schien - eigentlich optimale Bedingungen für den Stapellauf dieser neuen, mit Geldscheinen gepflasterten Ära des professionellen Golfsports.

Bereits am Eingang des Centurion Golf Club sind dumpfe Bässe einer offensichtlich riesigen PA-Anlage zu hören. Diese verstummen nur kurzzeitig, als eine Marschkapelle in Beefeater-Uniformen zur Blasmusik ansetzt. Am ersten Tee wurde eine kleine Tribüne aufgebaut, die auch Aussicht aufs Putting-Grün bietet. Und dort steht er tatsächlich: Dustin Johnson. Als wäre nichts gewesen, beäugt der 200-Millionen-Dollar-Mann einen Dreimeter-Putt, während sein Caddie die Tasche für die bevorstehende Runde sortiert. Und drei Meter sind auch in etwa die Entfernung, auf die die Fans an die Pros herankommen. Über der Szenerie liegt ein Gefühl der Intimität, wie man es von normalen Golfturnieren mit Spielern dieser Güteklasse nicht kennt. Die Spieler sehen entspannt und gelöst aus. Ich meine, die Spieler müssen auch glücklich aussehen, oder? Ein Mini-Starterfeld mit 48 Teilnehmern, kein Cut, 120.000 US-Dollar liegen selbst im Besenwagen bereit und der Gewinner wird nach 54 Löchern satte vier Millionen Dollar mit nach Hause nehmen.

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Phantastilliarden von Antrittsprämien interessieren mich in diesem Moment wenig, ich möchte wissen, wie viel ein Pint Bier kostet.
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Der erste Gang über den Platz erinnert an ein anständiges PGA-Tour-Event. Über der Driving Range und dem 18. Grün thront der "Club 54", von dem zahlungskräftiger Kundschaft ein dem Rahmen angemessenes VIP-Erlebnis geboten wird. Der Grundpreis für diesen Spaß beträgt 1.500 Britische Pfund und kann bis auf 8.000 Pfund steigen für das All-inclusive-Paket, das sogar Inside-the-ropes- Tuchfühlung mit einigen der weltbesten Profi-Golfer ermöglicht.

Einige der weltbesten Spieler - tatsächlich. Bisher ist es LIV Golf gelungen, Größen wie Dustin Johnson, Phil Mickelson, Sergio García, Ian Poulter, Lee Westwood und Martin Kaymer zu kaufen. Im Laufe des Wochenendes sollte sich herausstellen, dass Bryson DeChambeau und Patrick Reed ebenfalls ihre Koffer gepackt haben. Die Summen, die kolportiert werden, sind astronomisch, man könnte auch sagen unanständig - besonders wenn man bedenkt, wie wohlhabend die Top-Spieler bereits sind. Aber dem Sirenengesang des ganz großen Geldes können Profi-Golfer offenbar nicht widerstehen.

Phantastilliarden von Antrittsprämien interessieren mich in diesem Moment wenig, ich möchte wissen, wie viel ein Pint Bier kostet, schließlich könnte man angesichts der Tatsache, dass der über beinahe unlimitierte Geldmittel verfügende Staatsfond Saudi-Arabiens hinter alldem hier steht, das Bier vielleicht subventioniert sein könnte - dem Gesindel sozusagen einen Knochen zuwerfen. Leider nicht. Noch machen die großen Brauereien einen Bogen um das kontroverse Event, weshalb eine kleine Dose Craftbier für fünf Pfund über den Tresen geht und das Pint mit zehn Pfund zu Buche schlägt. Ebenfalls aus der Dose, denn gezapft wird hier nicht.

Am Ende der Fanzone befindet sich der Eingang zum Festivalgelände, auf dem drei Nächte lang jeden Abend Künstler und Bands auftreten. Diese Party ist im Ticketpreis enthalten, was die 67 Pfund für die Tageskarte zumindest ein klein wenig gerechtfertigter erscheinen lässt, denn am Line-up haben die Organisatoren nicht gespart: Craig David, Jessie J, James Morrison und James Bay sind nur einige der Acts, die hier zum hüftsteifen Tanz der Golf-Crowd aufspielen werden.

Der Streifzug durchs Merchandise-Zelt ist faszinierend. In den Tagen vor dem Turnier wurden die Namen der zwölf Viererteams bekannt gegeben, die neben der Einzelwertung über 54 Löcher ebenfalls eine Rolle spielen. Als ich die Teamnamen sehe - 4 Aces, Cleeks, Crushers, Stingers und Niblicks -, muss ich herzhaft lachen. Namen, die selbst Grundschülern peinlich wären, und Logos, die wirken, als wären sie im Volkshochschulkurs "Grafikdesign für Anfänger" gestaltet worden, lassen auf verzweifeltes Streben nach Jugendlichkeit deuten. Welchem Team soll ich mich zugehörig fühlen? Oli Fisher ist ein "Niblick" - bin ich dann nun auch einer? Ich weiß nicht so recht...

Mittlerweile bin ich seit zwei Stunden auf der Anlage, habe, um ehrlich zu sein, jede Menge Spaß und es ist noch kein einziger Golfball geflogen. Die DP World Tour bietet bei der PGA Championship in Wentworth zwar ebenfalls ein anständiges Zeltdorf und Live-Musik an den Abenden, aber dabei handelt es sich auch um das Flaggschiff-Event der Tour, das nur einmal im Jahr stattfindet. LIV Golf hat sich scheinbar zum Ziel gesetzt, den Zuschauern bei jedem seiner Events ein Maß an Unterhaltung zu bieten, das im Tour-Golf momentan noch fehlt.

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Spürbar ist die Abstinenz des Sponsoring von Großkonzernen. Kein Autokonzern, keine Bank, keine Luxusuhr will zurzeit noch hier das eigene Logo sehen. Wird sich das ändern, wenn die Tour etablierter und die Sportwelt weniger empört ist? Wer weiß, jedoch ist es eine willkommene Abwechslung: keine Werbung, nur Golf-Fans, die Spaß haben.

Kurz vor 14:15 Uhr ertönen Fanfaren wie beim Changing of the Guards, um jeden auf der Anlage wissen zu lassen, dass der Kanonenstart kurz bevorsteht. Am ersten Tee wird D.J. vorgestellt, dann Phil Mickelson. Lauter Jubel. Greg Norman betritt die Szenerie, als hätten wir alle nur auf diesen Tag gewartet. Das ist natürlich eine enorme Hybris, doch tatsächlich liegt ein Hauch von echter Erwartung auf etwas Neues in der Luft, von dem noch keiner der Anwesenden so recht definieren kann, was es eigentlich ist.

Der dritte Spieler im Bunde ist Scott Vincent. Er wird wie viele in diesem zusammengekratzten Spielerfeld mit sicht- und hörbarem Schulterzucken begrüßt. Niemand hier scheint jemals von ihm gehört zu haben, obwohl Vincent auf der Asian Tour zuletzt zwei Turniere in Folge gewinnen konnte. Wir haben es hier mit einem eklektischen Feld aus Superstars, deren Bankkonten zum Bersten gefüllt sind, und jungen Profis und Wandergesellen, die ihre Schäfchen noch längst nicht im Trockenen haben, zu tun.

Abschläge zischen das Fairway hinunter und die Spiele haben begonnen. LIV Golf ist nun tatsächlich Realität. Dank Medienakkreditierung darf ich mich innerhalb der Absperrungen bewegen. Ein großer Teil der Anwesen den tut es mir gleich und so gesellen sich angesichts eines bemerkenswerten Mangels an Sicherheitspersonal etwa 400 Fans zu uns, während wir den Spielern zu ihren Bällen folgen.

Als wir uns dem Grün nähern, ist ein gewisses Maß an Ordnung wiederhergestellt und ein einsamer Steward schafft es, alle wieder hinter die Seile zu bringen. Das dürfte für die beiden anwesenden Jungs eine Art Erleichterung gewesen sein, die 8.000 Pfund auf den Tisch gelegt haben, um dieses Privileg ohne den gemeinen Pöbel erleben zu dürfen.

Als wir den zweiten Abschlag erreichen, treffen auf sämtlichen Smartphones auf der Anlage die Push-Nachrichten der aktuellen Veröffentlichung der PGA Tour ein, in der sie die Suspendierung all ihrer Mitglieder erklärt, die hier in London fremdgehen. Unter den Fans macht sich bizarrerweise eine spürbare Euphorie breit, denn ganz offenbar sind sie Teil von etwas Neuem und Aufregendem.

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Im Gegensatz zur PGA Tour hüllt sich die DP World Tour zu diesem Zeitpunkt noch in betretenes Schweigen, was nicht wirklich überrascht. Die PGA Tour kann schließlich die moralische Keule schwingen und den Abtrünnigen die Unterstützung eines Regimes vorwerfen, dessen Staatsangehörige die Mehrheit der Attentäter des 11. September 2001 ausmachten, ganz zu schweigen von den offensichtlichen Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien oder der Ermordung von Jamal Khashoggi. Die DP World Tour dagegen befindet sich in einer Zwickmühle aus Moral und schnöden Geschäftsinteressen, richtet sie doch mehrere Turniere im Nahen Osten aus, darunter auch eines in Saudi-Arabien. Mit einem Titelsponsor aus Dubai wird es sicher interessant zu beobachten sein, wie CEO Keith Pelley sich aus diesem argumentativen Minenfeld befreien möchte.

Nachdem ich mir die zweite Runde des LIV-Invitational auf YouTube angeschaut habe und beinahe am Leaderboard verzweifelt wäre - Initialen für die Spieler machen vielleicht Sinn, wenn sie D.JNS lauten, ob sie hilfreich sind, wenn der Spieler Ratchanon "TK" Chantananuwat heißt, ist eine ganz andere Frage -, mache ich mich am Samstag erneut auf den Weg in den Centurion Club, um die dritte und letzte Runde des ersten LIV-Golf-Turniers live zu erleben.

Waren am Donnerstag noch schätzungsweise 4.000 bis 5.000 Fans auf der Anlage, sah die Sache am Samstag ganz anders aus. Es war sehr, sehr voll. Laut LIV Golf war der Finaltag tatsächlich ausverkauft, aber wie viele Leute für ihre Tickets auch bezahlt haben, ist damit nicht beantwortet. Ich treffe niemanden, der mir gegenüber tatsächlich zugibt, für den Eintritt harte Währung bezahlt zu haben, schließlich gab es genügend Mittel und Wege, für lau hierherzukommen, nicht zuletzt über die Social-Media-Geschenke der Spieler. Trotzdem, rund um die Fairways herrscht die Atmosphäre eines Golf-Festivals.

Ach ja, Golf wurde auch noch gespielt: Charl Schwartzel gewann das Turnier und die damit verbundenen vier Millionen Dollar. Auf dem letzten Platz war der US-Amateurmeister von 2019 und ehemalige Korn-Ferry-Spieler Andy Ogletree, der an keinem der drei Tage mit weniger als 75 Schlägen ins Clubhaus kam und die LIV-Premiere mit einem Endergebnis von 25 über Par beendete. Sein Gehacke, das im Centurion Club wahrscheinlich nicht mal zur Clubmeisterschaft reichen würde, wurde ihm dennoch mit 120.000 Dollar vergoldet. Als dickster Gewinner der Woche darf sich aber Hennie du Plessis fühlen. Schließlich gelang es dem Südafrikaner, dessen gesamtes Karrierepreisgeld in seinen ersten sieben Jahren auf der Sunshine Tour etwa 160.000 US-Dollar betrug, für Platz zwei in London 2.125.000 Dollar, also mehr als das 13-Fache seiner bisherigen Lebensleistung in Empfang zu nehmen. Er wird deshalb wahrscheinlich erst zum nächsten LIV-Event in Portland wieder nüchtern.

Ach ja, Portland. Der nächste Stopp des LIV-Zirkus ist Pumpkin Ridge in Portland, Oregon. Bryson DeChambeau, Patrick Reed und Brooks Koepka werden dort ebenfalls am Start sein. Genauso wie all die großen Namen, die ich gerade im Centurion Club beobachten durfte. Doch was passiert mit all den anderen Spielern, deren Namen ich noch nie gehört habe, die für LIV Golf aber ebenso ihre Heimattouren hinter sich gelassen haben? Geht Kevin Yuan (33. in dieser Woche) nach Boston? Wird Ian Snyman (27.) in Chicago spielen? Besteigt Turk Pettit (45.) ein Flugzeug nach Dschidda? Wird es weitere Superstars geben, die ihren Touren den Rücken zukehren und bei LIV anheuern? Werden sie bei den Major-Turnieren weiterhin startberechtigt sein?

Nach der Premiere von LIV Golf stellen sich mir mehr Fragen, als in den vergangenen drei Tagen beantwortet wurden. Sicher bin ich mir nur bei zwei Fragen: "Golf, but louder?" Wahrscheinlich. "Golf, but richer?" Ohne Zweifel.

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