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Tiger Woods

Red Shirt Redemption

Von Jan Langenbein, Fotos: Getty Images, Christoph Rathjen

22 Jahre nach seinem ersten Sieg in Augusta beginnt Tiger Woods an dem Ort, an dem einst alles begann, ein neues Kapitel seiner un­glaublichen Karriere und kann sich dabei auf einen ungewohnten Verbündeten verlassen: das schwere Geschütz.

Im Januar bat ein Lehrer in Florida die vierte Klasse, die er unterrichtet, einen Wunsch für das gerade erst beginnende Jahr aufzuschreiben. Ein gewisser Charlie Woods war Teil dieser Klasse und schrieb: "Ich möchte dieses Jahr miterleben, wie mein Vater ein Golfturnier gewinnt." Drei Monate später spielten sich am zwölften Loch des Augusta National Golf Club dramatische Szenen ab und plötzlich schien möglich, was selbst Tiger Woods ein Jahr zuvor für undenkbar gehalten hatte: Er war nicht nur drauf und dran, ein Golfturnier zu gewinnen. Tiger war kurz davor, bei einem Major zu triumphieren.

"Ich war erledigt, meine Karriere war zu Ende", gestand er in schonungsloser Offenheit während seiner Pressekonferenz zu Beginn der Masters-Woche 2019 und spielte damit auf den Tiefpunkt seiner körperlichen Verfassung zwei Jahre zuvor an.

Und dann versenkten mit Brooks Koepka, Ian Poulter, Tony Finau und Francesco Molinari vier Titelaspiranten nacheinander ihre Bälle in Rae's Creek an Loch zwölf. Tiger Woods, der seine Finalrunde bislang in Even Par absolviert hatte, zielte auf die Mitte des Grüns in dem Wissen, dass ein Par an diesem diabolischen Par 3, an dem schon so viele Titelträume ihr nasses Grab gefunden hatten, die geteilte Führung bedeuten würde. Charlies Wunsch schien plötzlich in greifbare Nähe zu rücken, doch die Dramatik dieses Vormittags, der für immer 
in die Sportgeschichte eingehen wird, hatte ihren Höhepunkt noch längst nicht erreicht. Dieser folgte vier Spielbahnen und zwei Tiger-Birdies später, als Woods' majestätischer Abschlag mit dem Eisen 8 die Welle im 16. Grün erwischte, nach links abbog und Richtung 
Loch zu rollen begann und für die wohl nervenaufreibendsten zehn Sekunden der Major-Geschichte sorgte. Justin Thomas und Bryson DeChambeau hatten kurz zuvor bewiesen, dass Asse hier und heute möglich sind, und mit jedem halben Meter, den Tigers Ball näher in Richtung Fahne taumelte, schien ein drittes Ass an diesem Tag wahrscheinlicher zu werden. In Sichtweite des 16. Abschlags spielte Gene Sarazen 1935 aus 215 Metern den "Shot Heard 'round the World", als er an Loch 15 mit dem Holz 4 zum Double Eagle einlochte, und 84 Jahre später hielten die Patrons auf der Anlage, Dutzende Millionen TV-Zuschauer in aller Welt und selbst der engste Verfolger Brooks Koepka auf dem 17. Abschlag den Atem an. An dieser Stelle besiegelte Woods 2005 mit dem Chip des Jahrhunderts und dem berühmtesten Cliffhanger der Masters-Historie seinen bislang letzten Sieg an der Magnolia Lane und nun rollte sein Ball näher und näher in Richtung eines Hole in One, das alle Dämme brechen lassen würde.

Tiger Woods:

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"Ich kann nicht glauben, dass du das letzte Loch Bogey gespielt hast."
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15 Zentimeter fehlten zwar zum ultimativen Höhepunkt, doch auch das Birdie an Loch 16 genügte Tiger Woods, um auf einer Welle der Euphorie die letzten beiden Löcher auf dem Weg zum fünften Masters-Sieg, 15. Major-Triumph und größten Sport-Comeback aller Zeiten zu Ende zu spielen.

Bomb Draws und Squeeze Cuts


22 Jahre nach Woods' bahnbrechendem ersten Erfolg in Augusta und zehn Jahre und zehn Monate nach seinem letzten Major-Sieg in Torrey Pines scheint nun mit Major Nummer 15 sogar der längst zu Grabe getragene Gedanke an Jack Nicklaus' Fabelrekord von 18 Major-Siegen wieder möglich zu sein. Mit Bethpage Black und Pebble Beach finden in den kommenden Monaten eine PGA Championship und eine US Open auf Golfplätzen statt, mit denen Tiger nicht nur positive Erinnerungen, sondern auch Pokale verbindet.

Der Sieg beim Masters 2019 war Tigers erster Triumph bei einem Major, bei dem er nicht als Führender oder zumindest geteilter Führender in den Sonntag startete. Er rollte das Feld nicht nur von hinten auf, Tiger manövrierte seinen Ball vier Tage lang über die welligen Fairways, die ständig lauernden Wasserhindernisse und die glitschigen Grüns des Augusta National Golf Club, ohne dabei auch nur ein einziges Doppel-Bogey notieren zu müssen, wie es ihm dort einst 1997 gelang. Damals rieb Paul Azinger, sein Spielpartner nach Runde zwei, verwundert die Augen: "Er ist der beste Golfer der Welt. Und er ist erst 22 Jahre als. Mein Gott!" Colin Montgomerie, der 1997 in Runde drei gemeinsam mit Tiger auf die Runde ging und sich vor dieser Hoffnungen auf ein Grünes Jackett und auf einen Sprung an die Spitze der Weltrangliste machte, stellte nach den 18 Löchern ernüchtert fest: "Er schlägt den Ball 290 Meter weit, ich 245 Meter. Er hat eine Aura um sich herum, die ich noch nie erlebt habe, und es besteht nicht die geringste Chance, dass Tiger Woods dieses Turnier morgen nicht gewinnt."

Montgomerie sollte recht behalten und für die nächsten zehn Jahre sollten Tigers Gegner kaum einen Stich machen können. Doch 2019 in Augusta hat sich die Plattentektonik des Profigolfs längst verschoben. Die besten Spieler der Welt heißen Dustin Johnson, Rory McIlroy und Brooks Koepka. Zwei aus diesem Trio mussten bisher noch keine 30 Kerzen auf ihrer Geburtstagstorte ausblasen. So wie Tiger Woods das Spielerfeld beim Masters einst körperlich dominierte und überpowerte, drückt heute Brooks Koepka diesem Golfplatz mit Abschlägen, die den alten Herrschaften im Clubhaus Angstschweiß 
in ihre grünen Sakkos treibt, seinen Stempel auf. Mit Abschlägen jenseits der 300 Meter degradierte Koepka die Löcher 13 und 15 zu Par-4-Spielbahnen und hämmerte auf dem Schlussloch seinen Driver, ohne mit der Wimper zu zucken, derartig weit um die Ecke des Doglegs, dass lediglich ein Pitching Wedge nötig war, um die Fahne zu attackieren.

Der Erfinder dieser Art, Golf zu spielen, ist jedoch mittlerweile 43 Jahre alt und nach vier Rückenoperationen längst nicht mehr in der Lage, diese Längen mitzugehen. Und doch war der Driver während dieser Woche Tigers effektivste Waffe.

Tiger Woods:
Zu Beginn des Wochenendes stellte ein anderer Mittvierziger klar, worauf es in Augusta ankommt. Phil Mickelson verriet auf seinem Twitter-Feed, während er die Magnolia Lane entlangcruiste: "Dave Pelz hat analysiert, dass die Verbesserung jeder einzelnen Statistik um lediglich zehn Prozent zu besseren Scores führt - außer der Drive-Länge. Es gibt nur einen Golfplatz auf der ganzen Welt, auf dem längere Abschläge statistisch zu niedrigeren Scores führen: Augusta National. Deshalb werde ich heute Bomben auf den Tees zünden." Für Mickelson ging dieser Plan nicht auf, Tiger Woods hingegen setzte ihn mit an Perfektion grenzender Präzision um. Wann immer es die Architektur des Golfplatzes erforderte, defensiv zu spielen, reichte Caddie Joe LaCava seinem Boss das Fairwayholz oder ein langes Eisen und Woods hielt sich an Spielbahnen wie der Drei oder dem Schlussloch stoisch an seinen Masterplan. Wurde Headcover Frank jedoch vom Driver gezogen, bot Woods eine wahre Lehrstunde: "Ich hatte bereits vor dieser Woche gute Kontrolle über die Kurven meiner Abschläge. Ich war das gesamte Turnier über in der Lage, hohe Bomb Draws und heiße Squeeze Cuts zu schlagen, und wenn ich mich unwohl fühlte, dann kam der kleine Spinner und landete auf dem Fairway", stellte Woods im Gespräch mit Jim Nantz in der Butler Cabin zufrieden fest und konnte sich einen kleinen Seitenhieb auf seinen ewigen Weggefährten nicht verkneifen: "Als ich Pro wurde, waren Vijay Singh und ich die Einzigen, die im Kraftraum Gewichte gestemmt haben. Heute geht sogar Phil ins Gym."

Gefühlsausbrüche auf dem 72. Grün eines Major-Turniers sind nichts Neues in der Karriere des Tiger Woods. Die Tränen in Hoylake 2006 galten seinem kurz zuvor verstorbenen Vater Earl, dem er jenen Open-Sieg widmete. Die rohe Ekstase nach dem gelochten Putt am Schlussloch der US Open 2008 in Torrey Pines war die Manifestation des schieren Willens, mit dem sich Tiger Woods auf einem gebrochenen Bein zum Sieg geschleppt hatte. Als der letzte Putt beim Masters 2019 fiel, konnte die ganze Welt einen Tiger Woods beobachten, wie er bislang noch nie bei einem Golfturnier in Erscheinung getreten war: überwältigt von der abfallenden Last der vergangenen Jahre und den ausgeräumten Zweifeln an die eigene Leistungsfähigkeit. Mutter Kultida brachte den unbedingten Siegeswillen im Hause Woods mit einem Grinsen auf den Punkt: "Ich kann nicht glauben, dass du das letzte Loch Bogey gespielt hast." Doch dieser kleine Seitenhieb ging im kollektiven Freudentaumel unter, und wo Tiger einst 1997 seinem Vater in die Arme fiel, rasteten nun seine Kinder Charlie und Sam gemeinsam mit ihrem Daddy aus.

"Meine Kids beginnen zu begreifen, wie viel mir dieses Spiel bedeutet und was ich bisher erreicht habe. Vor diesem Comeback wussten sie lediglich, dass Golf mir unendlich viele Schmerzen bereitet. Einen Golfschläger zu schwingen hat mich zu Boden gebracht und ich hatte jahrelang große Probleme. Das ist alles, woran sie sich bisher erinnern konnten."

F. Scott Fitzgerald schrieb einst in seinem unvollendeten Roman "The Last Tycoon": "There are no second acts in American lives", und brachte damit zum Ausdruck, dass niemandem eine zweite Chance beschieden ist. Für Tiger Woods scheint dies keine Gültigkeit zu haben. Seine zweite Karriere begann 2019 bei genau dem Turnier, das einst seine erste Karriere eingeläutet hatte.

Tiger Woods:

Der Größte?


Tiger stand noch in der Pressekonferenz Rede und Antwort und die Patrons verließen aufgrund des nahenden Gewitters zügig, aber ohne Hast das Gelände des Augusta National Golf Club, da wurde bereits die alte Diskussion über den Äther gejagt, wer denn nun der größte Golfer aller Zeiten sei: Tiger oder Jack. Schließlich hatte Ersterer gerade für neue, unwiderstehliche Fakten gesorgt.

Nach geschichtsträchtigen Sportereignissen stellt sich bei Zuschauern und Journalisten gern das ein, was in der Psychologie Rezenzeffekt genannt wird und beschreibt, dass später eingehende Informationen einen größeren Einfluss auf die Erinnerungsleistung einer Person ausüben als früher eingehende Informationen. Mit anderen Worten: Der jüngste Sieg wird gerne als der größte überhaupt wahrgenommen, was im Falle von Tigers Masters-Triumph 2019 auf der Hand liegt. Es empfiehlt sich in solch einer Situation, das gerade Erlebte für einen Moment zu verdrängen und sich drei ebenso zufällig ausgewählte wie gleichzeitig unglaubliche Fakten aus der Karriere des Tiger Woods vor Augen zu führen.

Es gelang Tiger insgesamt dreimal, fünf aufeinanderfolgende Starts auf der PGA Tour zu gewinnen. Keinem anderen Spieler während der letzten 60 Jahre gelang dieses Kunststück auch nur ein einziges Mal.
Mit 41 Turniersiegen auf der European Tour ist Tiger Woods der dritterfolgreichste Spieler in der Geschichte der European Tour. Der Haken dabei: Er war nie Mitglied der European Tour.
Und last but not least: Zwischen August 1999 und November 2000 schlug Tiger in 89 (!) aufeinanderfolgenden Runden den Durchschnittsscore des gesamten Starterfelds.

Allein diese Fakten würden den Titel "größter Golfer aller Zeiten" durchaus rechtfertigen. In diesem April gelang Tiger Woods allerdings, was nur den Ikonen des Sports vergönnt bleibt. Er schuf einen dieser "Wo warst du, als..?"-Momente. "Wo warst du, als Tiger Woods das Masters 2019 gewonnen hat?", werden wir alle noch genau so oft beantworten dürfen, wie selbst wissen wollen. Jeder Golfer wird darauf eine andere Antwort haben und manche sind sogar glücklich genug sagen zu können, selbst dabei gewesen zu sein. Tiger Woods aber kann für den Rest seines Lebens die coolste aller Antworten geben, wie er auf der Sieger-Pressekonferenz bewies: "Ich weiß, wo ich war. Ich hatte einen Tap-in zum Turniersieg."

 

Leaderboard

1 Tiger Woods -13
T2 Dustin Johnson -12
T2 Xander Schauffele -12
T2 Brooks Koepka -12
T5 Jason Day -11
T5 Webb Simpson -11
T5 Tony Finau -11
T5 Francesco Molinari -11

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