»US Open sind niemals einfach. Das war ein unglaublich harter Test für uns alle heute. Einige haben ihn bestanden, andere nicht. - Ian Poulter«
SPIEL'S NOCH EINMAL, BROOKS
Auch am Sonntag präsentiert sich Southampton in feinstem Champagnerwetter und in der Skybox hoch über der riesigen Tribüne neben Grün 16 fließen Bier und Margaritas in Strömen. Die glücklichen Besitzer von VIP-Pässen, die den Eintritt hier hinauf ermöglichen, sind zwar allesamt längst nicht mehr in der Lage, ein Kfz zu steuern oder auch nur in einer geraden Linie zu laufen. Ihre Einschätzung der sich vor unseren Augen entfaltenden Finalrunde ist jedoch auf den Punkt. "Der Shit-Job der USGA gestern hat dafür gesorgt, dass das Feld heute nah beieinanderliegt. Gut gemacht!", freut sich Andy, nach eigenen Angaben Besitzer einer kleinen Pizzeria in Brooklyn oder einfach nur ein für New York nicht untypisches Großmaul.
Dennoch hat er absolut recht, denn der grenzwertige Golfplatz des Vortags hatte für das Turnier denselben Effekt wie das Safety-Car für einen Formel 1 Grand Prix: Ein versprengtes Starterfeld mit einem souverän Führenden wurde wieder zusammengeführt und so gehen an diesem Sonntag mindestens zehn Spieler auf die letzte Runde in Shinnecock und können sich berechtigte Hoffnungen machen, am Ende des Tages die US Open Trophy in Empfang zu nehmen. Zuvor stellte jedoch eine ganze Armee älterer Herren in USGA-Jackets seit den frühen Morgenstunden jedes der 18 Grüns aufsuchend sicher, dass sich das Chaos und das Gemetzel des Samstags nicht wiederholt. Fünf Fahnenpositionen, die bereits vor Wochen für die Finalrunde festgelegt wurden, werden wenige Stunden bevor "Beef" Johnston als Einzelkämpfer den Finaltag eröffnet, sichtlich entschärft.
Selbstverständlich bekommt Johnston, als er in Richtung 16. Grün marschiert, von Andy und seinen Freunden das obligatorische "Beeeeeef!" entgegengeschleudert, Phil Mickelson muss sich Schmähgesänge wegen seines gestrigen Aussetzers anhören und Ian Poulter bleiben auch heute die Beleidigungen nicht erspart, über die er sich am Vorabend auf Twitter Luft verschafft hat. New Yorker Sportfans sind alles andere als Klosterschüler und mit Blick auf den Ryder Cup, der 2024 im Bethpage State Park nur wenige Kilometer außerhalb von Queens stattfinden wird, sollten potenzielle europäische Teammitglieder schon jetzt mit Sitzungen beim Psychiater beginnen, denn diese Woche wird nichts für schwache Gemüter werden. So ruppig New Yorker auch sein mögen, sie sind in der Lage, sportliche Heldentaten zu erkennen und zu feiern, und so stimmt die gesamte Tribüne in "Fleetwood! Fleetwood!"-Schlachtrufe ein als der Engländer zielstrebig das majestätische 16. Fairway hinaufmarschiert. Längst hat die Runde gemacht, dass Fleetwood sich in einen wahren Rausch gespielt hat, nach vier aufeinanderfolgenden Birdies auf den Löchern 12 bis 15 nun bei sieben unter Par für die Runde liegt und Historisches vollbringen kann. Doch seine Birdie-Putts auf den Löchern 16 und 18 rasieren die Lochkanten und so bleibt Branden Grace weiterhin der einzige Spieler in der Geschichte des Golfsports, dem eine 62 bei einem Major gelang. Die Rekordrunde hätte Tommy einen Platz im Playoff gegen Brooks Koepka beschert und es hätte ihn nicht einmal gewundert, denn am Morgen hatte er sich einen kühnen Schlachtplan zurechtgelegt: "Ich habe vor der Runde mit meinem Caddie gesprochen und meinte: 'Lass uns die niedrigste Runde in der Geschichte der US Open spielen, dann haben wir eine Chance.'" Nur wenige Zentimeter fehlten und diese Fantasterei wäre Wirklichkeit geworden, doch gegen eine beeindruckend nervenstarke 68 von Brooks Koepka war am Sonntag der 118. US Open nichts auszurichten. Das Masters hatte der Titelverteidiger noch wegen einer Handverletzung verpasst, die ihn wochenlang vor den Fernseher verbannte und zeitweilig sogar das Verrichten einfachster Handgriffe verhinderte. Doch nach Shinnecock war der extrem wettkampforientierte Weltranglistenneunte mit einem unerschütterlichen Bild seiner eigenen Rolle im Turnier angereist: "Niemand in diesem Starterfeld verfügt über mehr Selbstvertrauen als ich", lautete seine Selbsteinschätzung zu Beginn der Woche. Selbst eine Horrorlage nach einem gepullten Pitching Wedge an der äußerst kniffligen 11 war an diesem Sonntag keine unlösbare Aufgabe für Koepka. Seine Entscheidung, den Ball von hinter der Fahne absichtlich in den Bunker vor dem Grün zu spielen, um so eine Chance auf ein Bogey zu haben, zeigt nicht nur, wie abgezockt der 27-jährige Amerikaner Golf spielt, sondern verdeutlicht auch, dass er über alle Attribute verfügt, die es braucht, um auf einem Golfplatz dieses Kalibers gegen die besten Spieler der Welt zu bestehen. Seine Titelverteidigung unter vollkommen unterschiedlichen Bedingungen verglichen mit dem ersten Major-Sieg 2017 in Erin Hills unterstreicht, dass Brooks Koepka zu den komplettesten Golfern der letzten Jahre zählt, ohne dass eine Schwäche in seinem Spiel erkennbar wäre. Und sein schier unendliches Selbstvertrauen? Das speist sich aus einer ausgeprägten "Mein Team und ich gegen den Rest der Welt"-Mentalität. "Ich fühle mich immer übersehen", verriet er nach der Runde mit Medaille um den Hals und mit silberner US-Open-Trophäe in der Hand, "aber nichts könnte mich weniger kratzen. Das zweite Major zu gewinnen ist noch deutlich befriedigender als der erste Sieg. Ich hoffe, es kommen noch einige Siege hinzu." Andy begleitet uns derweil in Richtung Parkplatz, wird langsam wieder nüchtern und hat einen erstaunlichen Fakt auf Lager: "Mit Rory McIlroy, Jordan Spieth und Brooks Koepka haben wir nun drei Spieler unter 30 auf der Tour, die bereits mehrfache Major-Sieger sind. Ich glaube, um den Golfsport steht es wirklich blendend." Der Mann hat schon wieder recht.