"Nicht jeder ist für diesen Ort hier gemacht", stellt Kevin zu Beginn klar. "Das Umfeld ist nicht einfach, wir haben hier Zwölf-Stunden-Tage. Die meisten Golfer, die aufs College wechseln, berichten mir danach, dass das Leben an der Uni spürbar einfacher wurde."
»WAS TUN WIR HIER? GANZ EINFACH: UNSER ZWECK IST ES, SCHÜLER AUFS COLLEGE VORZUBEREITEN UND DORTHIN ZU VERMITTELN. PUNKT.«
Die Unterschiede zwischen einem Waisenhaus in Zentralamerika und einem Sportinternat wie der IMG Academy, in der sich die Studiengebühren für ein Jahr auf rund 90.000 Dollar belaufen, könnten kaum größer sein. Doch Kevin ist überzeugt, dass Training und Coaching von Jugendlichen nichts mit deren Herkunft zu tun haben. "Als ich das erste Mal hierherkam, müde von all den Reisen, die den Profizirkus ausmachen, wurde mir schlagartig klar: Ich habe so viel gelernt in den letzten 25 Jahren als Tour-Pro, Trainer und Coach und hier habe ich nun die Möglichkeit, etwas davon an Jugendliche zurückzugeben, die mir zuhören möchten."
SCHULALLTAG
An der IMG Academy werden nicht vorrangig Profisportler herangezogen, sondern Persönlichkeiten ausgebildet. "Was tun wir hier? Ganz einfach: Unser Zweck ist es, Schüler aufs College vorzubereiten und dorthin zu vermitteln. Punkt", fasst der Akademieleiter seine Aufgabe zusammen. Beim Betreten des riesigen Golfkomplexes fällt den Besuchern das offensichtlich von Schülerhand geschriebene Mission-Statement der Schule ins Auge: "Cultivate and empower student athletes to understand their purpose so they can become the best version of themselves", steht dort in ausbaufähiger Kalligrafie geschrieben. "Die beste Version ihrer selbst werden" ist der Teil dieses Mantras, der Craggs besonders wichtig ist. Zwar hängen zahlreiche Bilder erfolgreicher Absolventen der Tour an derselben Wand, doch niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass jeder Schüler, der sich hier einschreibt, irgendwann zwangsläufig auf der PGA Tour Millionen einspielen wird. "Nicht jeder fährt zu den Olympischen Spielen und gewinnt die Goldmedaille. Vielleicht ist ein Schlagdurchschnitt von 80 für einen Schüler sein persönlicher Open-Championship-Sieg. Wir dürfen nicht denken, dass lediglich die Aufnahme ins Golfprogramm eines Top-College oder die Spitze der Amateurweltrangliste als wirklicher Erfolg angesehen werden kann. Erfolg muss individuell definiert und kann auf allen Ebenen erreicht werden."
Der Lehrplan an der IMG Academy besteht aus drei Elementen: ausbilden, sich im Wettkampf messen und Erholung. Interessanterweise haben Teenager am letzten Teil dieses Curriculums das geringste Interesse. Schlafzeiten einzuhalten, richtige Ernährung und das gelegentliche Eisbad - davon wollen 15-jährige Heißsporne nur selten etwas hören. Kevin versucht, das Interesse daran mit Beispielen ihrer Vorbilder zu wecken: "Wenn ich ihnen erzähle, dass Tourprofis alle drei Löcher einen Happen essen, dann habe ich zumindest ein Verständnis dafür geschaffen, dass Essen und Ernährung ein wichtiger Teil der Leistungsfähigkeit sind." Was die Schulbildung und das Golftraining angeht, so ist der tägliche Fortschritt das Wichtigste. Zwar kennt hier niemand Herbert Grönemeyer, dass Stillstand der Tod ist, würden aber die Coaches wie auch die Schüler der IMG Academy allesamt unterschreiben. An Fachidioten, die Bälle schlagen können, aber gleichzeitig an den simpelsten Schulaufgaben scheitern, hat Kevin kein Interesse und stellt klar, dass unter seiner Ägide die Noten genauso wichtig sind wie die Ergebnisse auf den Scorekarten: "Die letzten zwei Jahre haben wir den Scholastic Cup gewonnen, bei dem nicht nur die sportliche Leistung zählt, sondern auch der Notendurchschnitt und die Fehlzeiten beim Unterricht eine wichtige Rolle spielen. Wir haben ein sehr gutes akademisches Programm."
Abseits der Klassenräume sorgen 16 Trainer und Coaches in den Bereichen langes Spiel, Putten, Kurzspiel und Platzstrategie zusammen mit einem großen Support-Team, das für die sportliche Leistungsentwicklung in den Bereichen mentale Stärke, körperliche Kondition, Ernährung und Charakterbildung zuständig ist, dafür, dass Tag für Tag an den golferischen Fähigkeiten gefeilt wird. Das Altersspektrum der Schülerinnen und Schüler an der IMG Academy erstreckt sich von elf bis 19 Jahren und so gliedert sich das Golfprogramm in drei Stufen. Die Jüngsten bekommen in der Middle School vor allem die Grundlagen des Teamworks, der körperlichen Koordination und des sozialen Miteinanders vermittelt. Keine einzelne Disziplin steht im Vordergrund, wie Kevin klarstellt: "Ich bin überzeugt davon, dass sich kein Kind unter elf auf eine einzelne Sportart konzentrieren sollte, besonders nicht auf Golf, denn Golf ist eine sehr insulare Sportart. Man trainiert allein, man verbessert sich allein und man tritt im Wettkampf allein und für sich selbst an." Grundlagen erlernen bedeutet für Kevin aber nicht nur das korrekte Set-up über dem Ball und eine saubere Schwungebene. "Die Tatsache, dass alle unsere 198 Schüler die Namen des Putzpersonals und der Greenkeeper kennen, ist enorm wichtig. Es gibt schließlich wichtigere Dinge im Leben, als einen Golfball geradeaus zu schlagen. Ich möchte keine Schüler unterrichten, die zwar regelmäßig eine 72 spielen, sich sonst aber wie komplette Arschgeigen benehmen."
Im High-School-Alter zwischen 14 und 18 Jahren beginnt dann die Spezialisierung in Sachen Sport. Gleichzeitig wachsen aber auch die schulischen und akademischen Anforderungen. Der dritte und letzte Teil des IMG-Academy-Programms liefert die Vorbereitung auf das nahende College, denn bei den ältesten Schülern hier ist das Ziel klar definiert: den Studienplatz an der gewünschten Universität ergattern. Es stehen daher Zeitmanagement, Planung und Verantwortungsbewusstsein der eigenen Person gegenüber im Mittelpunkt der Schulbildung - neben jeder Menge Golftraining, versteht sich. Mit 18 Jahren und einem High-School-Abschluss in der Tasche sind Schüler zwar vor dem Gesetz erwachsen, als Menschen sind sie es nach Kevins Ansicht jedoch noch lange nicht. "Doch wenn wir ihnen die Werkzeuge für ihr kommendes Leben vermittelt haben, wenn sie wissen, was gute Ernährung, ein respektvolles und faires Miteinander und natürlich auch ein gesundes Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten bedeuten, dann kann eigentlich nicht viel schiefgehen." Gequält lächelnd fügt er hinzu: "Es gibt immer fünf Prozent Verrückte. Egal ob in einer Klasse, in einem Team oder in einem Unternehmen. Daran wird sich meiner Erfahrung nach nie etwas ändern."
Steckbrief
NAMEKevin Craggs
JAHRGANG
1969
WOHNORT
Bradenton, Florida
PROFI SEIT
1987
VITA (AUSZUG)
1990 bis 1995
Tour-Pro
2006 bis 2014
Coach des schottischen Damen-Nationalteams
2015
Cheftrainer der Scottish Golf Union
2016 bis heute
Coach von Tourspielern
2019 bis heute
Golf director IMG Academy
• Mehr als 50.000 Stunden erteilter Golfunterricht
• Trainierte vier Major-Sieger, drei Ryder-Cup-Spieler und vier Solheim-Cup-Teilnehmerinnen