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Nachtschicht – Teil 2

Selbstversuch auf U.S. Open-Platz

Von Jan Langenbein, Fotos: Jan Langenbein

LEKTIONEN IN DEMUT
Kurz vor 6:30 Uhr schieße ich Selfies vor dem berühmten Warnschild am ersten Tee. "Zum ersten Mal hier?", möchte ein Zeuge dieser infantilen Begeisterung wissen. Ganz offensichtlich eine rhetorische Frage, denn er lässt mir keine Zeit zu antworten. "Ich bin Et und habe den Black Course mindestens schon 250-mal gespielt. Das wird hart heute, aber wir werden unseren Spaß haben." Auf dem ersten Abschlag warten bereits Jeff und Jonathan, zwei Jungs aus Florida, die unseren Vierer vervollständigen. Ohne Vorwarnung zieht Jeff seinen Driver aus dem Bag und prügelt eine Bombe das Fairway hinunter, deren Flugbahn den Abschlägen, die ich vorgestern noch in Shinnecock bewundern durfte, in nichts nachsteht: 290 Meter - mindestens. Mir zittern die Hände und ich bin heilfroh, als meine hässliche Bananenflanke von einem Push Slice nach etwa 190 Metern Segelflug über dem linken Rough zurück aufs Fairway findet. Auf dem Weg zu unseren Bällen zolle ich den beiden Florida-Boys Respekt und Jeff klärt mich auf: "Wir haben beide versucht, als Profi Fuß zu fassen, aber nach ein paar erfolglosen Jahren auf den Minitouren im Süden haben wir aufgegeben. Jetzt arbeiten wir als Caddies. Heute ist unser freier Tag, deshalb: Bethpage, Baby!" Mein Rangefinder zeigt an, dass es nach meinem Angsthasenabschlag noch 202 Meter bis zur Fahne sind, und nach einem weiteren Slice mache ich, 30 Meter vor dem ersten Grün und 20 Meter rechts davon, zum ersten Mal Bekanntschaft mit US-Open- würdigem Rough. Während Jeff ganz locker ein Wedge in Richtung Fahne spielt, krallt sich das dichte Gras rund um meinen Ball den Schlägerkopf meines Lob-Wedges und gibt ihn nicht wieder frei. Zehn Meter - weiter hat es dieser erste Versuch eines Pitches nicht geschafft und einen weiteren Versuch und zwei Putts später steht das erste Doppel-Bogey des Tages auf der Scorekarte. Da nichts langweiliger ist als die Post-Golfrunden-Schilderungen von Amateurgolfern, erspare ich mir an dieser Stelle einen detaillierten Schlag-für-Schlag-Bericht der Runde. Das schmerzhafte Protokoll samt Visualisierung meiner Odyssey auf Loch 4 sollte genügen, einen Eindruck meiner golferischen Bemühungen an diesem Tag zu vermitteln.

Nachtschicht: Enttäuschung im Sandkasten: Förmchen vergessenNachtschicht: Enttäuschung im Sandkasten: Förmchen vergessen
Enttäuschung im Sandkasten: Förmchen vergessen

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JAY MONAHAN KÖNNTE SICH HEUTE DAZU ENTSCHLIESSEN, NÄCHSTE WOCHE AUF DIESEM PLATZ EIN PLAY-OFF-TURNIER DES FED-EX CUP STATTFINDEN ZU LASSEN, UND MÜSSTE DAZU LEDIGLICH SEILE RUND UM DIE SPIELBAHNEN SPANNEN LASSEN.
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Schon nach zwei Löchern wird klar, was auf diesem Golfplatz das Gebot der Stunde ist: Verfehlt man das Fairway auch nur um 30 Zentimeter, sinkt die Wahrscheinlichkeit auf ein Green in Regulation in den Promille-Bereich, so dicht ist das Rough in Bethpage. Auf Loch 3, einem 140 Meter langen Par 3, gelingt es mir das einzige Mal an diesem Tag, ein Grün in der angedachten Anzahl der Schläge zu treffen, und Loch Nummer 4, ein Par 5, auf das ich mich seit Stunden gefreut habe, ist tatsächlich so gigantisch, wie ich es von der Play Station in Erinnerung habe. Ich würde sogar noch weiter gehen und behaupten, dieses Loch ist das beste Par 5 der Welt, das nicht wie die 18 in Pebble Beach oder die 12 in Kingsbarns über ein unschlagbar spektakuläres natürliches Wasserhindernis - der Pazifik im ersten und die Nordsee im zweiten Fall - verfügt. A.W. Tillinghast baute diesen Platz bereits in den 1930er-Jahren und hat ein knüppelhartes Meisterwerk für die Ewigkeit geschaffen. Noch beeindruckender als das fantastisch abwechslungsreiche Design ist der sagenhafte Pflegezustand des Black Course. Die Fairways liegen wie Teppiche vor uns und sämtliche Grüns sind nicht nur makellos, sondern auch beängstigend schnell. Mit anderen Worten: Jay Monahan könnte sich heute dazu entschließen, nächste Woche auf diesem Platz ein Play-off-Turnier des Fed-Ex Cup stattfinden zu lassen, und müsste dazu lediglich Seile rund um die Spielbahnen spannen lassen, so perfekt ist der Zustand des Black Course.

Selbstversuch auf U.S. Open-Platz
Da aufgrund der unwirklichen Länge dieses Platzes und seines Score killenden Roughs Greens in Regulations für mich hier nahezu unmöglich sind, bin ich auf präzise Pitches und einen funktionierenden Putter angewiesen, um wenigstens eine Handvoll Pars auf die Scorekarte zu bekommen. Als auf Loch Nummer 12 bereits mein dritter Putt aus mehr als acht Metern Länge fällt, schüttelt Et ungläubig den Kopf: "Unbelievable! Another par from the wilderness." Wenig später versenke ich auf Loch 15 dann einen Putt aus über 15 Metern und keiner meiner Mitspieler fühlt sich zu Applaus verpflichtet. "War doch klar, dass du den lochst. Wundert mich kein bisschen", zuckt Jeff gleichgültig mit den Schultern und stapft in Richtung 16. Tee. Ihm ist auf der unmenschlich schweren 15 tatsächlich ein Birdie gelungen, das vierte seiner Runde. Nach einem abschließenden Par auf der von Bunkern durchlöcherten 18 möchte es Et genau wissen: "Das sah nach einer guten Runde aus, Jeff. Was sagt die Scorekarte?" - "Even par", antwortet der Ex-Pro emotionslos, doch Et packt ihn am Arm, um ihm die Bedeutung dieses Moments zu verdeutlichen: "Das war meine 23. Runde auf dem Black Course in diesem Jahr. 2017 habe ich 63 Runden hier gespielt und 2016 waren es 60. Ich habe hier schon mit NBA-Spielern und angehenden Pros gespielt und du hast die beste Runde von den Back Tees, die ich jemals miterleben durfte, gerade um elf Schläge unterboten. Glückwunsch, mein Freund!"

Nachtschicht: Vollkommen ineffektiv: die Sense aus der Kinderabteilung
Vollkommen ineffektiv: die Sense aus der Kinderabteilung
BIER ZUM FRÜHSTÜCK
Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal bereits vor dem Mittagessen ein Bier bestellt habe, doch nach dieser Runde und ihren 91 Schlägen reicht eine Cola nicht aus und für Whiskey ist es definitiv noch zu früh. Um mich von diesem Platz verprügeln zu lassen, habe ich mir einen langweiligen Actionschinken angesehen, auf einem Parkplatz übernachtet, auf ein anständiges Frühstück verzichtet - und trotzdem hatte ich noch nie so viel Spaß auf einem Golfplatz bei gleichzeitig so miserablem Score. Et ist mit mir an die Bar gekommen und erweist sich als echter Bethpage-Experte. "Der Black Course ist keineswegs unfair. Alle Schwierigkeiten sind vom Tee aus gut sichtbar. Man darf aber nicht vergessen, dass dieser Platz ein echter Test für die Fitness ist. Ich spiele alle meine Runden mit einem Fitnessarmband und daher weiß ich, dass ich während einer durchschnittlichen Runde 11,9 Kilometer laufen muss. Auf dem Black Course sind es 13,6 Kilometer. Dazu kommt, dass während einer Runde hier 55 Stockwerke an Höhenunterschied erklommen werden müssen. Das ist kein Pappenstil." Meine Nacht auf dem Parkplatz jedoch entlarvt er als Anfängerfehler. Et betrieb, bevor er sich zur Ruhe setzte, einen Pub in Manhattan und kam mehrmals die Woche, nachdem er die letzten Kunden des Tages aus seiner Kneipe komplimentiert hatte, hierher, um sich auf dem Parkplatz in die Reihe zu stellen. "Ich habe gegen halb vier geschlossen, bin hierhergekommen, um den Black Course zu spielen, und war um elf Uhr wieder zu Hause, um ins Bett zu gehen. Mittlerweile weiß ich, dass es in 99 Prozent der Fälle genügt, wenn man gegen fünf Uhr im Clubhaus sein Glück versucht." Wir bestellen jeder ein zweites Pint und ich lasse den Blick über das erste Tee vor dem Fenster der Clubhausbar schweifen. Der Vierer um 12:10 Uhr wird aufgerufen und wie ich sechs Stunden zuvor slict einer nach dem anderen der vier Spieler seinen Ball in hohem Bogen aufs Fairway. Auf jedem anderen Golfplatz würden diese Schläge mit verzogenen Gesichtern und unmissverständlichen Unmutsbekundungen kommentiert werden. Hier sind alle nur glücklich, diesen ersten Nerventest überstanden zu haben, und wissen spätestens zwei Löcher später, dass eine 77er-Runde bei einer US Open selbst für einen gestandenen Profi keine Schande ist, denn näher an echte Bedingungen, die dem härtesten Major des Jahres würdig sind, als im Bethpage State Park kommt man garantiert nirgendwo.

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