Ausgangslage
Der Schotte Sandy Lyle hatte nach der zweiten Runde die Führung übernommen und sah wie der sichere Sieger aus, als er am Finaltag mit drei Schlägen Vorsprung in die berühmt-berüchtigte Amen Corner ging. Doch nach einem Bogey auf Loch 11 und einem Wasserschlag an der legendären 12 war er plötzlich schlaggleich mit Mark Calcavecchia und Craig Stadler. Die Kräfteverhältnisse hatten sich so verschoben, dass Greg Norman während seines Interviews in Butler Cabin unkte, Calcavecchia würde siegen. Die Prognose schien wahr zu werden, als Lyle an der 18 den Abschlag mit dem Eisen 1 in den ersten Fairway-Bunker verzog. "Oh oh, oh oh! Nicht der Ort, an dem man sein will", warnte der Fernsehkommentator.
Balllage
Wenn ein Ball in den perfekt manikürten Bunkern von Augusta National landet, muss man sich eigentlich keine Gedanken über die Lage machen. Allerdings lag Lyles Ball nicht in der Mitte des Bunkers, sondern war fast bis ans Ende gerollt. "Er hat ihn in die schlechteste Position gelegt, die man haben kann", analysierte Kommentar Pat Summerall das Dilemma. Das Problem: Lyle hatte nicht nur 145 Yards bis zum Grün, er musste zudem schnell Höhe gewinnen, um den Ball nicht mit voller Wucht in die Bunkerkante zu schlagen. Entsprechend groß war die Sorge, als er sein Eisen 7 in die Hand nahm, dass Sandy Lyles Ball statt auf dem Grün nur wenige Meter weiter entfernt im nächsten Bunker zur Ruhe kommen würde.
Schlagoption
Direkt vor Lyle hatte der Ko-Führende Mark Calcavecchia mit seinem zweiten Schlag die falsche Seite des Plateaus erwischt und musste mit ansehen, wie der Ball rechts vor das Grün zurückrollte. Von dort hatte er allerdings einen simplen Chip, den er 15 Zentimeter neben dem Loch ablegte. Sandy Lyle hätte also einfach zum Eisen 8 oder Eisen 9 greifen können, um die Bunkerkante aus dem Spiel zu nehmen, und sich mit einem Up and Down in ein Play-off retten können. Die aggressive Variante mit dem Eisen 7 bot dem Schotten zwar die Chance auf ein Birdie, die je doch über die Kante hinaus noch mit weiteren Risiken verbunden war, da auch aus den Grünbunkern oder vom oberen Plateau des Grüns ein Par schwierig geworden wäre.
Augenzeuge
Zusammen mit Lyle war Ben Crenshaw auf die Runde gegangen, hatte seine Siegchancen aber früh verspielt. Während der Finalrunde war der 1984er-Champion vor allen Dingen beeindruckt, wie sein Spielpartner mit dem Fauxpas in der Amen Corner umging: "Natürlich hat er gut gespielt, aber dank seiner mentalen Fähigkeiten konnte er Fehler wegstecken und weitermachen." Dennoch war auch Crenshaw von Lyles Heldentat an der 18 verblüfft. "Das war einer der unglaublichsten Schläge, die ich je dort drüben gesehen habe!", erinnert er sich. "Er hat einen sehr aggressiven Schwung gemacht und der Ball wurde einfach perfekt getroffen. Er hat nicht viel Sand genommen und der Ball stieg wie eine Rakete in den Himmel."
Nachspiel
Als das Publikum verhalten reagierte, hatte Lyle Sorge, er hätte den Ball zu gut erwischt. Tatsächlich landete der Ball auf der Kante des oberen Plateaus, entschied sich dann aber doch noch zurückzurollen. "Als das Publikum immer unruhiger wurde, dachte ich, der Ball läge 30 Zentimeter an der Fahne. So war ich etwas enttäuscht, dass es noch dreieinhalb Meter waren", erinnerte sich Lyle Jahre später. Doch er ließ sich nicht beirren, lochte den Putt sicher und gewann als erster Brite das Masters. "Jedes Mal wenn ich das Loch spiele, schüttele ich den Kopf", schmerzt es den geschlagenen Calcavecchia bis heute. Er litt nicht als Einziger: Beim folgenden Masters servierte Sandy Lyle den anderen Masters-Champions Haggis.