Für die Fitzpatricks ist "Full Swing" eine Art Umkehrung des bisherigen Rollenverhältnisses. Seit jeher war das Scheinwerferlicht auf den vier Jahre älteren Matthew gerichtet. Bei der US Amateur Championship 2013 fuhr Matt den Titel ein, während sein Bruder die Tasche trug und Applaus spendete. Als Alex 2018 sein Studium an der Wake Forest University begann, hatte Matt gerade seinen fünften Titel auf der European Tour eingefahren. Und als der kleine Bruder im World Amateur Golf Ranking bis auf Platz vier geklettert war, einen lukrativen Wechsel zu LIV Golf ablehnte und am 03. Juni 2022 ins Profilager wechselte, stellte Matt die alte Familien-Hackordnung wieder her, indem er 13 Tage später die US Open gewann. Aus diesem Grund ist die "Im Schatten" titulierte Netflix-Folge nicht nur eine Chance, aus selbigem hervorzutreten, sondern auch die Möglichkeit, ein Mission Statement zu setzen. "Sie hat gezeigt, dass ich versuche, in die Fußstapfen meines Bruders zu treten, aber auch, dass ich meinen eigenen Weg gehe. Und ich hoffe, dass einige meiner Ergebnisse das bestätigt haben."
Tatsächlich hat Alex Fitzpatrick nach dem Wechsel ins Profilager überraschend schnell in die Erfolgsspur gefunden. In seiner ersten vollen Saison gewann er nicht nur ein Turnier auf der Challenge Tour, er war sogar Zweiter auf der DP World Tour, sicherte sich die volle Spielberechtigung und ließ bei seinem ersten Major-Start als 17. zahlreiche Spitzenspieler hinter sich - unter anderem seinen großen Bruder. In diesem Jahr steht Alex dank eines vierten Platzes beim Skandinavian Mixed im Race to Dubai sogar unter den Top 40.


»ICH FÜHRE STATISTIKEN, SEIT ICH 15 ODER 16 JAHRE ALT GEWESEN BIN, UND HABE SOGAR EINE EIGENE DATENBANK.«
Warum er sich noch so genau daran erinnern kann, verstehen wir, als wir Fitzpatrick auf der Runde begleiten. Nach jedem Schlag und jedem Putt geht sein erster Griff an den Scorekartenhalter in der rechten Gesäßtasche, in den der Name Fitzy und das Logo seines Heimatvereins Sheffield United eingenäht sind, um minutiös das Ergebnis zu protokollieren. Eine Eigenart, die man mehr mit seinem Bruder verbindet. Nicht zuletzt, weil Alex vor Kurzem in einer Pressekonferenz behauptete: "Wir haben nicht viel gemeinsam. Er schaut sich Excel-Tabellen an, ich spiele an der Videokonsole." In Wirklichkeit ist die Liebe zu Statistiken in der Familie Fitzpatrick offenbar ein dominantes Erbgut. "Ich führe Statistiken, seit ich 15 oder 16 Jahre alt gewesen bin, und habe sogar eine eigene Datenbank", gibt Alex schmunzelnd zu. "Der Unterschied zwischen mir und Matt liegt im Detail. Meine Statistiken sind schon detailliert, aber seine sind auf einem Level, den ich nicht einmal nachvollziehen kann."
Es ist daher nicht verwunderlich, dass auch das Training von Statistik geprägt ist. "Ich arbeite mit Edoardo Molinaris Firma Statistics Golf. Für jede Woche schickt Ed einen Plan des Golfplatzes und darauf basierend plant mein Coach meine Übungen für die Woche." Ein wichtiger Bestandteil davon ist die deutsche Firma Bal.On geworden, deren von künstlicher Intelligenz geprägtes Trainingstool beim Engländer Begeisterung auslöst: "Im Prinzip ist es eine Möglichkeit, die Druckverlagerung in den Füßen zu messen. Der genaue Ablauf übersteigt meinen Wissenshorizont, aber grob gesagt sind es dünne Sohlen, die man in die Schuhe legt und die dann zu jedem Zeitpunkt des Schwungs anzeigen, wie viel Prozent des Gewichts auf dem linken Fuß und wie viel auf dem rechten Fuß liegen." Dass selbst Profis auf solche Hilfsmittel setzen und angewiesen sind, zeigt wieder einmal, dass die Komplexität des Golfschwungs mit Videos geschweige denn mit den fünf Sinnen kaum noch zu entschlüsseln ist, wie Fitzpatrick bestätigt. "Die Drucksensoren nehmen die Schätzwerte aus dem Spiel. Mir geht es oft so, dass ich das Gefühl habe, mein Gewicht liegt zu 60 Prozent auf dem vorderen Fuß. Und dann schaue ich auf die App und stelle fest, dass es nur 40 Prozent gewesen sind. Dieses sofortige Feedback ist extrem hilfreich."

Anders als viele Eltern von erfolgreichen Sportlern haben Russell und Susan wirklich eine Leidenschaft für den Sport. "Die Amerikaner würden meinen Vater momentan vermutlich einen Sandbagger nennen", scherzt Alex. "Er hatte früher mal ein Handicap von 6." Und um zu sehen, wie gut seine Mutter spielt, muss man sich nur das Leaderboard der Dunhill Links Championship 2023 anschauen, als Susan gemeinsam mit Matt die Team-Wertung gewann.
Kein Wunder also, dass auch Alex von einem besonderen Familien-Team fantasiert. "Ein großer Traum von mir ist es, im Ryder Cup zu spielen. Das Unglaublichste wäre natürlich, mit meinem Bruder zusammen einen Vierer zu spielen. Ich glaube, wir haben bei der Zurich Classic gezeigt, dass das funktionieren kann." In diesem Jahr belegten sie Platz elf, 2023 wurden sie 19., wie alle Zuschauer der Netflix-Doku sehen konnten. Eine Sequenz, die bei Alex Fitzpatrick ein wenig für Verstimmung sorgte und zeigt, dass auch die Netflix-Doku ab und an nach der alten Mark-Twain-Weisheit "Lass nie die Wahrheit einer guten Geschichte in die Quere kommen" funktioniert. "Bei der Zurich Classic habe ich ganz gut gespielt, in der Folge kam jedoch es rüber, als wäre ich schlecht gewesen, das war ein wenig frustrierend."

Auf seinem Weg zum 51. Platz hätte es genügend Gründe gegeben, genervt oder gleichgültig über den Platz zu schlendern. Fünfmal schlägt er ins Wasser, seine erste Runde kann aufgrund von Startverschiebungen nicht beendet werden, der Start der zweiten Runde wird nach starken Regenfällen um drei Stunden verschoben, den Cut schafft er nur mit Ach und Krach durch ein Birdie am letzten Loch und am Finaltag muss er als einer der Ersten auf die Runde. Dass der Frust tief sitzt, kann man Fitzpatrick ansehen, dennoch gerät er nie in Versuchung, seine Gruppe mit runterzuziehen. Er wirft Divots der Mitspieler zurück, um deren Caddies den Weg zu ersparen, führt angeregte Gespräche mit allen in seinem Flight, organisiert Ready Golf, hat nie ein böses Wort für seinen eigenen Caddie und lobt seine Konkurrenten, wann immer sie für ihre Schläge ein Kompliment verdient haben. Kurzum: Fitzy ist ein echter Gentleman auf der DP World Tour.
Die soll für den Engländer nur eine Übergangsstation sein. Dass er überhaupt in Europa spielt, ist ein Wink des Schicksals. Weil er eine schwache Q School für die Korn Ferry Tour spielte, gleichzeitig aber seine sieben europäischen Turniereinladungen in eine Karte für die Challenge Tour ummünzte, war sein Weg vorbestimmt. Das Ziel ist und bleibt aber die PGA Tour und die Rückkehr in die USA, wo er sich während seiner Zeit an der Wake Forest University einen zweiten Lebensmittelpunkt aufgebaut hat. Das Sport-Stipendium an der Uni führt er auch darauf zurück, dass der Wechsel ins Profilager bislang ohne große Rückschläge verlaufen ist. "Als ich mir die US-Colleges angeschaut habe, sind mir sofort die Übungsmöglichkeiten ins Auge gestochen. Hinzu kommt, dass man Woche für Woche gegen die besten Amateure der Welt spielt."

Steckbrief
NameAlex Fitzpatrick
Jahrgang
1999
Wohnort
Sheffield
Profi seit
2022
Lieblingsverein
Sheffield United
Erfolge (Auszug)
2023
Open Championship (17. Platz)
2023
British Challenge (1. Platz)
2023
ISPS Handa World Inv. (2. Platz)
2024
Scandinavian Mixed (4. Platz)
Was dies bewirkt, erkennt man deutlich, wenn man sich anschaut, wer neben Alex Fitzpatrick 2019 und 2021 im Walker Cup spielte. Von den Teilnehmern aus Großbritannien und Irland findet sich neben Alex aktuell nur Harry Hall in den Top 500 der Weltrangliste wieder. Auf amerikanischer Seite des Amateur-Kontinentalwettstreits sind dagegen mit Akshay Bhatia und Austin Eckroat zwei Teilnehmer unter den Top 50 und drei weitere unter den Top 200 der Welt. "Die meisten der besten Spieler der Welt waren am College. Dort gibt es Coaches, die sich um dich kümmern, und Trainingsmöglichkeiten auf olympischen Level", schwärmt Fitzpatrick. "An den guten Universitäten hat man alle Voraussetzungen, um sich zu entwickeln. Wenn man sich richtig vorbereitet, einen Plan hat und besser werden will, gibt es nichts, was einen aufhält."
Eine Sache würde er in den USA jedoch vermissen: die Besuche bei Sheffield United. "Wann immer ich zu Hause bin, gehe ich ins Stadion." Leider ist sein Herzensverein dieses Jahr aus der Premier League abgestiegen. "Ich bin schon enttäuscht, aber immerhin haben wir nächste Saison so das ,Steel City Derby' gegen Sheffield Wednesday zurück", sieht Alex das Positive. Es geht eben nichts über eine brüderliche Rivalität.