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Marcel Siem – Teil 2

Alles muss raus!

Von Rudi Schaarschmidt, Fotos: Getty Images

Im Kampf gegen die Ergebniskrise hatte sich Marcel in den letzten Jahren mit neuem Management, neuem Caddie, Golf-, Fitness- und Life-Coaches ein neues Team um sich herum aufgebaut. Nachdem sie sich viele Jahre aus den Augen verloren hatten, besuchte er 2019 seinen Jugendfreund André Kruse, Trainer in einem Düsseldorfer Golfclub. Siem erzählte seinem einstigen Teamkollegen aus der Jugendnationalmannschaft von seinen Problemen. Kruse schaute sich seinen Schwung an und erschrak: "Vom alten Marcel war nichts mehr da." Einige renommiertere Trainer hatten versucht, ihm den vermeintlich modernen PGA-Schwung aufzuzwingen. Dabei hat es Marcel schon immer anders gemacht. Er ist ein Gefühlsspieler, der sich auf seine goldenen Händchen verlassen kann. "Er hatte schon immer einen schwachen Griff und oben extrem geöffnete Schlagflächen", erzählt Kruse, "aber er hat es mit seinem Schwunggefühl geschafft, square an den Ball zu kommen. Das haben einige versucht umzustellen. Daraufhin hat er in Serie Cuts verpasst." Kruse bestärkt ihn, sich wieder zurückzubesinnen, seinem ursprünglichen Stil treu zu bleiben. Nachdem Marcel daraufhin in Marokko zum ersten Mal wieder einen Cut geschafft hat, ruft er bei André an und weint vor Erleichterung. Es geht weiter aufwärts. Das Gefühl zu wissen, wo sich Schlägerkopf und Schlagfläche befinden, kommt mehr und mehr zurück. Und damit das Selbstbewusstsein. Sowie die Ergebnisse. Bis zum Happy End in Indien.

Du bist in dieser Saison immer im Preisgeld gelandet. Woher kommen die gute Form und die Konstanz? Was hat sich verändert?
Ohne die Verletzungen wäre bereits das vergangene Jahr eine ganz gute Saison gewesen. Da habe ich auch schon relativ konstant gespielt und nur wenige Cuts verpasst. Aber ich habe wirklich auch viel mit meinem Trainer André gearbeitet. Ich habe ihm heute Morgen noch mal geschrieben, wie dankbar ich ihm bin für seine bedingungslose Fürsorge. Er hat echt was auf dem Kasten und hat mich zurückgebracht zu meiner alten DNA. Deswegen habe ich wieder das Gefühl, auch unter Druck zu funktionieren. Und ich bin einfach viel netter zu mir. Ich habe mich ja immer so fertiggemacht auf dem Golfplatz, wenn irgendwas nicht funktioniert hat. Da bin ich einfach wesentlich geduldiger geworden und habe gelernt, dass es gar nichts bringt, wenn ich meinem Ego so viel Freiraum gebe. Ich beobachte natürlich auch die anderen Spieler und erkenne, wie sehr man sich selbst im Weg stehen kann.

Du stehst im R2D jetzt so, dass du dir sicher auch Gedanken über den Ryder Cup machst, oder? Und was ist mit Olympia 2024 in Paris?
Es wäre unvernünftig, jetzt irgendwelche Pläne zu schmieden. Ich komme jetzt auch in die Rolex-Events rein, und wenn ich so weiterspiele... es wäre eine riesengroße Ehre für mich, beim Ryder Cup mal abschlagen zu dürfen. Vom Format her ist der Ryder Cup so emotional, das ist so geil - Match Play, Wahnsinn, würde ich supergerne spielen! Olympia würde ich eher den Jüngeren überlassen. Ich weiß auch nicht, ist ganz komisch, aber es gibt mir nicht diesen... Meine Mutter ist totaler Olympia-Fan und guckt sich alles an. Die rastet jetzt aus, wenn ich das sage. Und alle, die da waren, fanden es geil. Es gibt Golfer, die haben sich die Olympischen Ringe tätowiert. Also, das muss schon krass sein. Ich weiß nicht warum, aber Masters und Ryder Cup haben für mich trotzdem eine wesentlich höhere Priorität.

Marcel Siem: Open Championship 2021: als geteilter 15. zurück im Oberhaus
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WENN DIR JEMAND 20 MILLIONEN AUF DEN TISCH LEGT, DANN BIST DU DURCH FÜRS LEBEN. DEINE KARRIERE IST ABER AUCH DURCH, WEIL DU NIE WIEDER HUNGRIG SEIN WIRST.
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Gibt es einen Unterschied für dich, wenn ich nach deinem größten, deinem wichtigsten und deinem emotionalsten Erfolg frage? Oder gibt es den einen, der alles vereint?
Das kann ich dir sofort sagen. Der wichtigste Erfolg war jetzt in Indien. Der emotionalste war mit meiner Tochter letztes Jahr auf der Challenge Tour, ganz klar. Das war unfassbar! Das war auch der Startschuss in die richtige Richtung mit den Open in der Woche danach. Dass meine Tochter das miterleben konnte, hat unsere Beziehung noch mehr verinnigt. So etwas in der Zeit mit meiner Tochter zu erleben, in der meine Frau die Chemotherapie gemacht hatte, war Wahnsinn! Der größte Erfolg war natürlich in China. Das hat finanziell einen unfassbaren Impact gehabt. Aber der wichtigste war auf jeden Fall jetzt in Indien. Mit Abstand der wichtigste!

Apropos Preisgelder: Wie beurteilst du die Zukunft der European Tour?
Ich liebe diese Tour. Aber mit diesem Weltranglistensystem... wenn das nicht schnellstmöglich geändert wird, dann stehen wir echt auf dem Schlauch, weil unsere Spieler dann in keine Majors mehr reinkommen. Da sehe ich eine sehr große Gefahr, und viele Spieler beschweren sich zu Recht darüber. Als Weltklasse-Golfer möchtest du die Majors spielen. Wenn aber die Korn Ferry Tour mehr Punkte bekommt als wir auf der European Tour, und wir auf einmal nur noch die drittbeste Liga sind - das macht keinen Sinn. Das muss geregelt werden. Diese LIV-Geschichte hat die PGA-Tour natürlich komplett geboostet. Ich finde, wir sind da so ein bisschen auf der Strecke geblieben.

Du hast LIV Golf angesprochen. Wie ist deine Meinung zur Saudi Tour?
Ich finde das Format schrecklich, ich find's wirklich schrecklich. Es hat mich schon gewundert, wie viele Leute da rübergegangen sind. Ich kann sie aber verstehen. Die Reisekosten, die wir haben, die Steuern, der Caddie muss bezahlt werden, die Coaches müssen bezahlt werden - also, von den 324.000, die ich in Indien bekommen habe, geht richtig viel von weg. Bitte nicht falsch verstehen: Es ist mega, aber es ist nicht so, wie es nach außen immer aussieht. Und die LIV Tour macht so unmoralische Angebote, da ist es schwer, Nein zu sagen. Wenn dir jemand 20 Millionen auf den Tisch legt, dann bist du durch fürs Leben. Deine Karriere ist aber auch durch, weil du nie wieder hungrig sein wirst und nie wieder die Liebe dazu haben wirst, wenn du die Majors nicht spielen kannst. Das geht alles flöten. Das finde ich schlimm. Wenn junge Talente nicht in den Genuss kommen, Majors zu spielen und mal wirklich zu erleben, was ein Cut bedeutet, wie viel Druck dahintersteckt. Ist echt ein schwieriges Thema.

In einer idealen Welt - was soll für dich noch kommen?
Also mein allergrößtes Ziel ist es, ein Mehrfachsieger pro Jahr zu werden. Ich möchte nicht nur einmal gewinnen, ich möchte zwei- oder dreimal. Es gibt nicht so viele Spieler, die das geschafft haben in ihrer Karriere, und ich würde mich ganz gerne irgendwann dazuzählen. Du denkst wahrscheinlich: "Da hat er gerade nach acht Jahren einmal gewonnen und kommt jetzt mit solchen Sachen an", ne? Aber du hast gefragt. Ich sag nicht, dass ich das auf jeden Fall schaffe, aber es wäre mein Traum. Und auch, dass ich mal die Masters spiele und mir hoffentlich die PGA-Tour-Karte erspielen kann.

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