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Tiger Woods

Wir sind un würdig!

Von Tim Southwell

Comebacks feierte Tiger Woods bereits zahllose. Was sich vor unser aller Augen in Augusta abspielte, war weit mehr - es war eine Auferstehung.

Es gibt diese berühmte Szene in "Der Pate III", in der Gangsterboss Michael Corleone, gespielt von Al Pacino, niederschmetternde Neuigkeiten erhält, die drohen, seine Pläne für eine bürgerlichere und weniger lebensgefährliche Zukunft zunichtezumachen. Es ist eine der beeindruckendsten schauspielerischen Leistungen der Filmgeschichte: "Gerade als ich dachte, ich bin draußen...", sinniert er, bevor sich seine Stimme zu einem tosenden Orkan erhebt, "... ziehen die mich wieder rein!"

Dieser Hollywood-Klassiker kam mir immer wieder in den Sinn, als Tiger Woods sich an der ersten Teebox beim Masters 2022 darauf vorbereitete, ins Turnier zu starten. Wie bei Millionen Golf-Fans auf der ganzen Welt begann auch mein Herz, schneller zu schlagen, und meine Handflächen schwitzten. Ich hatte ein beseeltes und vor Vorfreude strotzendes Grinsen im Gesicht. Wie zum Teufel war das überhaupt möglich? Tiger Woods kann von Glück sprechen, noch am Leben zu sein. Die Tatsache, dass er laufen kann, grenzt an ein Wunder.

So sehr es uns auch deprimiert haben mag, der Typ, der uns über die Jahre so unglaubliche Momente beschert hat, schien erledigt. Dafür hatte sein furchterregender Autounfall nur 408 Tage zuvor gesorgt. Von den verschiedenen Verletzungen war es der kolossale Schaden, den sein rechtes Bein abbekommen hatte, der die Chirurgen sogar veranlasste, Tiger vor eine möglicherweise notwendigen Amputation zu warnen. Auch wenn dieses Schicksal abgewendet werden konnte, gab es keine Gewissheit, dass er je wieder normal laufen würde. Und doch stand er nun am 07. April um 11:04 Uhr Ortszeit am ersten Abschlag in Augusta, ging durch seine Pre-Shot-Routine und sah für die ganze Welt aus genau wie... nun, genau wie Tiger.

Was würde wohl passieren? Kann es ihm überhaupt gelingen, dem gnadenlosen Auf und Ab des berühmtesten aller Golfplätze standzuhalten? Liegt ein überstandener Cut im Bereich des Möglichen? Oder könnte er vielleicht sogar... Die Golfwelt hielt den Atem an, Tiger zog seinen Driver aus der Tasche und katapultierte mit einem butterweichen und gleichzeitig kraftvollen Schwung nicht nur seinen Ball, sondern auch uns alle in eine neue Zukunft. "Gerade als ich dachte, ich bin draußen..."

Gehen wir zurück in den Februar 2021. Tiger Woods war in Los Angeles, um seiner Gastgeberrolle beim Genesis Invitational im Riviera CC gerecht zu werden und die Trophäe zu überreichen. Zu Beginn der Turnierwoche standen Dreharbeiten mit GolfTV, mit denen er eine Kooperation abgeschlossen hatte, auf dem Zeitplan.

Tiger Woods:

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Tiger Woods kann von Glück sprechen, noch am Leben zu sein. Die Tatsache, dass er laufen kann, grenzt an ein Wunder.
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Am Dienstag, den 23. Februar, um sieben Uhr morgens knallte Woods' SUV mit viel zu hoher Geschwindigkeit über den Kantstein des befestigten Mittelstreifens des Hawthorne Boulevard in der Nähe von Rancho Palos Verdes, einer Küstenstadt im Los Angeles County. Das Fahrzeug schoss danach über zwei Fahrbahnen der Gegenrichtung und überschlug sich mehrmals, bevor es in einer Böschung zum Stillstand kam. Woods wurde wenig später bei Bewusstsein und ansprechbar aufgefunden. Obwohl sein Fahrzeug schwer beschädigt war, hatten die Airbags ausgelöst, wodurch Woods den Unfall überleben konnte, berichtete Alex Villanueva, Sheriff von Los Angeles County. Bilder vom Unfallort zeigten, dass das Auto ein Wrack war, und in den sozialen Medien sorgte man sich nur wenige Minuten, nachdem die Nachricht um die Welt gegangen war, angesichts dieser immensen Schäden um den 15-fachen Major-Sieger.

Der Stellvertreter des Sheriffs Carlos Gonzalez, der als Erster am Unfallort eintraf, gab zu Protokoll, dass es sich bei diesem Straßenabschnitt um einen "Hot Spot für Verkehrsunfälle" handle, an dem Fahrer häufig die Geschwindigkeitsbegrenzung überschreiten. Er merkte an, dass die Tatsache, dass Woods einen Sicherheitsgurt trug, "ihm wahrscheinlich das Leben gerettet" habe.

Laut Dr. Provencher, dem medizinischen Experten bei Fox Sports, erlitt Tiger Woods folgende Verletzungen: offene Trümmerbrüche im oberen und unteren Teil des Schien- und Wadenbeins, bei denen die Knochen durch die Haut gedrungen sind. Dazu kommen Verletzungen an Knöchel und im Fußbereich sowie Schäden am das Schienbein umgebenden Muskelgewebe. Die Frakturen, die Woods erlitten hatte, verursachten Verletzungen des Wadenmuskels, der durch sich dort ansammelndes Blut stark anschwoll.

Es war eine niederschmetternde Diagnose, und obwohl die unmittelbaren Gedanken natürlich um Tigers gesundheitlichen Zustand kreisten, fragte sich die Golf- und Sportwelt, wann oder ob wir ihn jemals wieder im Wettbewerb sehen würden. Die Prognose war alles andere als vielversprechend. Unfallverletzungen dieser Art können zu erheblicher Schwächung, Kraftverlust, Schmerzen, früher Arthritis und Verlust der Gelenkbewegung führen, insbesondere im Fuß und im Knöchel. Tigers Talus war ein ernstes Problem, da dieser Knochen sehr wichtig für die Knöchelfunktion, die Mobilität und das Abstoßen vom Boden ist. Die Heilung des Sprungbeins war für ein mögliches Comeback von größter Bedeutung. Um ernsthaft darüber nachdenken zu können, jemals wieder 72 Löcher Turniergolf zu spielen, würden Woods und sein Team schier unmenschliche Anstrengungen auf sich nehmen müssen. 72 Löcher in Augusta, wo selbst Bergziegen zu kämpfen haben, wären nichts anderes als ein medizinisches Wunder.

Zurück in die Gegenwart: das 165 Meter lange sechste Loch in Augusta. Tiger Woods liegt nach fünf gespielten Löchern even Par. Birdies sind hier und heute an diesem kühlen, windigen Tag Mangelware. Am vorherigen Loch war es beinahe so weit, als Woods seinem fünf Meter langen Putt hoffnungsvoll hinterherblickte, Millionen von den Sofas aufsprangen - um dann nach einem herzzerreißenden Lip-out in sich zusammenzusinken. Wenige Minuten später sah es so aus, als hätte der grandiose Abschlag auf dem Par 3 sogar eine Chance auf ein Hole-in-One, doch Tigers Ball kam unter tosendem Jubel wenige Zentimeter vom Loch entfernt zum Liegen. Augusta bebte. Birdie, -1. Rate mal, wer zurück ist. "Gerade als ich dachte, ich bin draußen..."

Verletzungen und Unglücke sind im wohldokumentierten Leben des Tiger Woods nichts Neues. Die Liste der Operationen, die nötig waren, um weiter Golf auf höchstem Niveau spielen zu können, liest sich wie eine Medizin-Enzyklopädie. Von Dezember 2002 bis Februar 2021 musste sich Woods mindestens zehn schwerwiegenden Operationen unterziehen. Mindestens, denn es ist davon auszugehen, dass er sich nicht die Mühe machen würde, uns von einer Operation zu berichten, die lediglich ein Routineeingriff war. Tief durchatmen...

Tiger Woods: Masters 2015: Wenigstens das Knie tat nicht wehTiger Woods: Masters 2015: Wenigstens das Knie tat nicht weh
Masters 2015: Wenigstens das Knie tat nicht weh
Und das waren nur die Operationen. Andere Beschwerden, die zu Turnierpausen und längeren Abstinenzen von der Tour führten, sind noch zahlreicher. Da gab es den Bandscheibenvorfall im Nacken, drei Dehnungen des linken Knies sowie der Achillessehne, eine Verletzung des linken Ellbogens, äußerst schmerzhafte Krämpfe im Rücken, die legendären "versagenden Gesäßmuskeln", eine Verhaftung wegen Fahrens unter Einfluss psychoaktiver Substanzen in Jupiter, Florida, nach "einer unerwarteten Reaktion auf verschriebene Medikamente". Dieses Vergehen führte dazu, dass Tiger eine Geldstrafe von 250 Dollar und Gerichtskosten zahlen musste und an einem Entzugsprogramm teilnahm. Ganz zu schweigen von seinem langen Sabbatical, als nach der Kontroverse um "Cocktail-Waitress-Gate" nicht nur Tigers bis dahin recht makelloses Image ernsthaft Schaden nahm, sondern auch seine Ehe in die Brüche ging.

Während der ersten fünf Profijahre von 1997 bis zu seiner ersten Operation im Jahr 2002, in denen Woods, soweit wir wissen, verletzungsfrei war, gewann Tiger acht Major-Titel. In den 20 Karrierejahren nach der ersten Operation 2002 kamen weitere sieben Major dazu. Diese Fakten werfen die Frage auf: Was hätte sein können? Tatsächlich verpasste er verletzungsbedingt den Start bei sechs verschiedenen Major-Turnieren. Der gesunde Menschenverstand weiß daher schon seit einer ganzen Weile, dass sich Tigers ambitioniertes Karriereziel, Jack Nicklaus' Fabelrekord von 18 Major-Triumphen zu übertreffen, längst zwischen OP-Sälen und Boulevardpresse in Luft aufgelöst hat. Doch würde Tiger etwas auf seinen gesunden Menschenverstand geben, hätte er längst auf seinen Körper gehört und gesagt: "Genug ist genug." Doch Tiger Woods kann nicht anders. Es scheint, als wurde er in diese Welt geboren, um der Logik zu trotzen und Erwartungen zu übertreffen.

Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich selbst und mit mir der Rest der Welt ihn widerwillig abgeschrieben haben. Es gab einfach zu viele Zwischenfälle und Probleme, als dass er tatsächlich den Weg zurück auf den Golfplatz finden konnte. Und dennoch gelang es ihm immer wieder. Als er 2018 bei der Tour Championship in Atlanta das Meer der Jünger teilte, war die Metamorphose zum Lazarus der Moderne endgültig vollzogen. Einige Monate nach diesem geschichtsträchtigen Tag in East Lake waren alle Augen auf Tiger gerichtet, als er 2019 in Augusta aufschlug. Was sich an jenem dramatischen Sonntag abspielte, katapultierte unsere Tiger-Liebe in ein völliges Fantasieland. Sein umwerfender, wunderbarer, unglaublicher Sieg dort ließ mich in meine Golftasche weinen. Welch ein Genie! Doch dann stieg er an diesem verdammten Dienstag in Los Angeles in sein SUV.

Augusta National 2022, 16. Abschlag: Tiger Woods hat gerade einen von rechts nach links brechenden Achtmeter-Putt zum Birdie versenkt und auf der Anlage brechen alle Dämme. Auf meiner Wohnzimmer-Couch japste ich nach Luft und schrie: "Hör auf damit! Das ist lächerlich, du spielst mit unseren Gefühlen." Das Up and Down, das wenig später aus 60 Metern auf Bahn 18 folgte, war dann so Tiger-like wie surreal.

Von all den wunderbaren Dingen, die Tiger bisher auf dem Golfplatz vollbracht hatte, war dieser Donnerstag - für mich jedenfalls - das Großartigste. Das Masters würde er wohl nicht gewinnen und es war noch nicht einmal klar, dass er den Cut schaffen würde. Und doch war Tiger Woods das einzige Thema, das während dieser Woche in der gesamten Sportwelt von Relevanz war.

Tiger Woods: Barclays 2013: Laufen war nicht mehr drin
Barclays 2013: Laufen war nicht mehr drin
Bei seinem ersten Start unter Turnierbedingungen nach 17 Monaten schaffte Tiger Woods nach all den Knochenbrüchen und der Reha den Cut. Das ist mehr, als man von Brooks Koepka, Bryson DeChambeau oder Jordan Spieth, allesamt junge Männer an der Spitze ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit, sagen könnte.

Im Laufe des Wochenendes forderten die körperliche Belastung, sein zusammengeflicktes Bein, das lädierte Kreuzband und der kaputte Nacken ihren Tribut. Tiger fiel auf dem Leaderboard zurück und trotzdem bejubelte ich jeden guten Schlag und ignorierte die schlechten. Ich muss gestehen, dass Scottie Schefflers Kantersieg mich komplett kalt ließ. Ich bin nicht einmal wach geblieben, um den letzten Putt zu beklatschen. Nachdem Tiger seine Runde beendet und die Standing Ovations der Patrons entgegengenommen hatte, hatte das Masters 2022 seinen Höhepunkt gefunden. Nichts für ungut, Scottie, aber du bist einfach zu langweilig. Auch wenn du gerne "The Office" schaust.

Als die Kamera einfing, wie Tiger nach der letzten Runde vom Grün humpelte, um seinen Sohn Charlie zu umarmen, fiel es ihm sichtlich schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er sah aus wie ein müder, alter Mann, der gut beraten wäre, seinen Stolz runterzuschlucken und den Treppenlift zu installieren, von dem ihm alle sagen, er würde ihn bald brauchen. Tiger Woods war vielleicht angeschlagen und durchlitt höllische Schmerzen, doch er hatte nicht nur sich selbst, sondern allen bewiesen: Es ist erst dann vorbei, wenn er sagt, dass es vorbei ist.

 
Tiger Woods

Tiger Woods

Dezember 2002: Operation zur Entfernung von Flüssigkeit um das vordere Kreuzband. Tiger pausiert für ein paar Wochen - und gewinnt danach seinen ersten Start beim Buick Invitational 2003.

April 2008: Nach dem zweiten Platz bei den Masters wird Tiger arthroskopisch operiert, um einen Knorpelschaden am linken Knie zu beheben. Dabei stellt sich heraus, dass er mit doppelten Stressfrakturen in seinem linken Schienbein gespielt hat.

Juni 2008: Woods gewinnt die US Open in Torrey Pines, humpelt und taumelt jedoch buchstäblich zur Ziellinie und unterzieht sich anschließend einer rekonstruktiven Operation am vorderen Kreuzband des linken Knies. Neun Monate Zwangspause.

April 2014: Tiger verpasst das Masters und gibt bekannt, dass er am Rücken wegen eines eingeklemmten Nervs operiert wurde.

September 2015: Bei einer zweiten Mikrodiskektomie-Operation wird ein Bandscheibenfragment entfernt, das einen Nerv in seinem Rücken eingeklemmt hat.

Oktober 2015: Folgemaßnahmen zur letzten Rückenoperation sind notwendig.

April 2017: Eine weitere Operation zur Linderung anhaltender Schmerzen in Rücken und Bein ist nötig.

August 2019: Erneute arthroskopische Operation zur Reparatur eines Bandschadens am linken Knie.

Januar 2021: Tiger gibt bekannt, dass er sich einer fünften Mikrodisektomie am Rücken unterzogen hat.

Februar 2021: Nach beschriebenem Verkehrsunfall in Los Angeles müssen Ärzte eine Schiene schrauben und Stifte einsetzen, um Tigers gebrochenes Bein zu stabilisieren.

Nach Abschluss des Turniers wandte er sich an die Medien und teilte uns mit, dass "Tiger Woods: die unendliche Geschichte" tatsächlich fortgesetzt würde. Er plant, dieses Jahr die 150. Open Championship in St. Andrews zu spielen.

Der Old Course: flach, körperlich weniger anstrengend als 90 Prozent aller anderen Tourplätze und nicht nur geheiligtes Golfland, sondern darüber hinaus Schauplatz zweier der größten Tiger-Woods-Triumphe. Hier hat er die Konkurrenz bereits mit acht und fünf Schlägen Vorsprung deklassiert. Noch sind mehr als zwei Monate Zeit. Wenn sich sein Bein bis dahin erholt. Wenn er fit bleibt. Wenn das schottische Wetter keine Kapriolen schlägt. Wenn die Golfgötter es wollen. Wenn… "Gerade als ich dachte, ich bin draußen…"

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